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Die Wolke von Gudrun Pausenwang. Jugendbuchempfehlungen

Gudrun Pausewang:

Die Wolke

1. Bibliografische Angaben und Lesestufe

  • Gudrun Pausewang: Die Wolke. Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag, 2006, 224 S.
  • Lesestufe: 7.– 9. Klasse

2. Inhaltsangabe

Mitten in einen schönen Frühlingstag bricht die Katastrophe herein. Janna-Berta sitzt gerade in der Schule und schaut aus dem Fenster auf den blauen Himmel, als plötzlich die Sirenen heulen. Schnell wird klar, dass durch einen Störfall im nahegelegenen Kernkraftwerk Grafenrheinfeld Radioaktivität freigesetzt worden ist. Die anfänglich nur aufgeregte Stimmung unter den Schülern weicht schnell einer Massenpanik der ganzen Bevölkerung, die so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone zu fliehen versucht. Janna-Berta und ihr jüngerer Bruder Uli sind ganz auf sich allein gestellt, denn die Eltern sind mit dem kleinen Bruder Kai für einige Tage in Schweinfurt. So muss Janna-Berta alleine die existentielle Frage lösen, wie sie entkommen können. Sie packt ein paar Lebensmittel ein, drückt Uli seinen Teddy in den Arm und versucht, mit ihm auf ihren Fahrrädern von ihrer Heimatstadt Schlitz nach Bad Hersfeld zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Um schneller vorwärtszukommern, wählen sie eine Abkürzung über den Feldweg. Dabei stürzt Uli und wird von einem Auto erfasst. Wie betäubt bleibt Janna-Berta neben ihrem toten Bruder in dem Rapsfeld sitzen. Doch das ist erst der Anfang der schrecklichen Odyssee, die Janna-Berta in den nächsten Wochen bevorsteht. In Bad Hersfeld sieht sie, wie Menschen den Bahnhof stürmen und völliges Chaos ausbricht. Sie erlebt, wie die Flüchtlinge an der Grenze zur DDR abgewiesen werden und wie man ihr nicht helfen will, weil sie eine „Verseuchte“ ist. In dem Nothospital Herleshausen, in das sie schließlich gebracht wird, sterben kranke Kinder von einem Tag auf den anderen, Erwachsene müssen ohnmächtig dabei zusehen und sie selbst verliert ihre Haare. Sie erfährt, dass ihre Eltern, ihr Bruder Kai und ihre Großmutter mütterlicherseits bereits in den ersten Tagen nach dem Reaktorstörfall gestorben sind. Und sie muss feststellen, dass diejenigen, die wie ihre Tante Helga in Hamburg einigermaßen davongekommen sind, von ihr erwarten, das Vergangene zu verdrängen und möglichst so weiterzumachen wie zuvor. Als sie an diesen Erfahrungen und Erlebnissen beinahe zerbricht, flieht sie aus Hamburg zu ihrer Tante Almut, die jetzt in Wiesbaden lebt. Almut, die ein ungeborenes Kind verloren hat, gibt die Hoffnung nicht auf, sondern gründet ein Begegnungszentrum für Strahlenopfer, die sogenannten Hibakusha. Von ihr lernt Janna-Berta, dass sie nur weiterleben kann, wenn sie sich den Problemen stellt und versucht, die falsche Politik durch eigenes Handeln zu verändern. Und so geht sie, ein knappes halbes Jahr nach dem Reaktorunfall, noch einmal zurück in ihre verstrahlte Heimat, begräbt die Überreste ihres Bruders Uli und erzählt ihren eben erst aus Mallorca zurückgekehrten und völlig nichtsahnenden Großeltern, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.

3. Kurzinformationen zur Autorin

Gudrun Pausewang, 1928 in Böhmen geboren, arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin an verschiedenen deutschen Schulen in Südamerika und in Deutschland. Heute lebt sie als freie Autorin in Schlitz bei Fulda. Sie schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und erhielt zahlreiche Auszeichnungen für ihre mehr als achtzig Bücher, in denen sie sich immer wieder für Frieden, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Zwei negative Utopien beschäftigen sich mit der atomaren Gefahr und erhielten große Aufmerksamkeit: Die letzten Kinder von Schewenborn, das die Folgen eines Atomkriegs beschreibt, war in den 1980er Jahren eines der meistdiskutierten Jugendbücher und erhielt u. a. den Gustav-Heinemann-Friedenspreis. Die Wolke, ein Bestseller, wurde 1988 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und 2006 verfilmt (Regie: Gregor Schnitzler, Drehbuch: Marco Kreuzpaintner. D 2006).

4. Allgemeine Einordnung

Der Anlass für dieses Buch, das 1987 veröffentlicht wurde, war der Reaktorstörfall von Tschernobyl im Jahr zuvor. Der Roman spielt das Szenario ungefähr zehn Jahre später auf deutschem Boden nach, allerdings mit verheerenderen Folgen, denn das in der Fiktion betroffene Gebiet ist weitaus dichter besiedelt und die freigesetzte Radioaktivität höher. Dem Roman ist eine Anzeige vorangestellt, die vier Wochen nach dem Unfall in Tschernobyl in der ZEIT abgedruckt wurde. Ihr Tenor ist, dass die Politiker versagt haben, und aus diesem Grund fordert sie auf, etwas gegen die Atompolitik zu unternehmen. In diesen gedanklichen Kontext stellt Pausewang ihren Roman und unterstreicht dabei, dass er die Menschen „wachrütteln“ und zum Widerstand auffordern soll. Der enorme Erfolg des Buchs in den 1980er Jahren trug neben der Protestkultur und der neugegründeten Partei Die Grünen sicher dazu bei, das Bewusstsein für die Gefahren der Atomenergie zu schärfen und politisch aktiv zu werden. Das Thema ist nach wie vor hochaktuell. Einerseits scheint die Möglichkeit eines Super-GAUs nach dem 11. September 2001 durch die Gefahr eines terroristischen Angriffs auf Atomanlagen größer geworden zu sein, andererseits droht in Zeiten häufiger Klimakatastrophen die Atomenergie als saubere, nachhaltige Energie, die dabei helfen kann, den weltweiten CO²-Ausstoß zu verringern, einen neuen Boom zu erleben. Pausewangs Bearbeitung wirkt heute unzeitgemäß: Auch wenn sie ihre negative Utopie in die 199 0er Jahre legt, so zeichnet sie mit bemalten VW-Bussen, Jutetaschen, der Antiatombewegung und ihren Demonstrationen vielmehr ein Bild der späten 1970er bis Mitte der 198 0er Jahre. Die propagierte Vorstellung, dass unser gesellschaftliches Leben in erster Linie vom Staat geregelt wird und deshalb auch „die Politiker“ für alle Probleme verantwortlich gemacht werden können, wirkt ebenso antiquiert wie die funktionierende Großfamilie, in der die Großeltern noch stark vom Zweiten Weltkrieg geprägt sind. Dennoch schadet die heute unzeitgemäße Gestaltung dem Roman weniger als sie ihm nützt, denn sie zwingt die Leser, sich neu zu positionieren: Wo stehen wir heute im Vergleich zu den 198 0er Jahren? Was hat die Antiatombewegung inzwischen erreicht? Was bedeuten heute Widerstand und Zivilcourage? Welche Möglichkeiten haben wir momentan, ökologische Katastrophen zu verhindern?

5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten

Der Roman ist in einer einfachen und sachlichen Sprache in personaler Erzählhaltung aus der Sicht Janna-Bertas geschrieben. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, Rückblenden sind selten und erinnern dann weniger an die heile Welt vor der Katastrophe als vielmehr an die Positionen der Beteiligten zur Atomkraft. Janna-Bertas Gedanken und Gefühle werden manchmal über Träume, vor allem aber über ihre Handlungen beschrieben. Beispielsweise wird das Ausmaß ihres Schmerzes über den Tod ihres Bruders dadurch illustriert, dass sie trotz radioaktiven Regens zurück zu dem Rapsfeld möchte, wo die Leiche liegt. Auffallend ist, dass Pausewang die Ereignisse bis zu Ulis Tod und Janna-Bertas Aufenthalt in Herleshausen sehr detailliert schildert, die Passagen dazwischen aber merkwürdig verschwommen bleiben und mehr an Kriegsszenerien als an Bilder nach einem atomaren Unfall erinnern. Das Notkrankenhaus lässt etwa an ein Lazarett denken und die Gefahrenzone ist wie eine Kriegsfront genau eingrenzbar. Dass bei einem Super-GAU in Hessen ganz Deutschland und auch weite Teile Europas auf viele Jahrzehnte nicht mehr bewohnbar wären, scheint im Kontext des Romans unvorstellbar zu sein; als schlimmste Folgen der Verstrahlung werden Krebs, Fehlgeburten und Haarausfall geschildert.

6. Didaktische Anregungen

Ziel der Lektüre sollte es sein, die Schüler auf die Gefahren der Kernenergie aufmerksam zu machen, die Vor- und Nachteile der Nutzung zu diskutieren und vor allem Möglichkeiten des eigenen Handelns zu erörtern. Auch wenn der Roman sprachlich und strukturell unkompliziert ist, sollte er wegen des bedrückenden Themas erst ab der 7. Klasse gelesen werden. Allgemein sollte bei der Bearbeitung Wert darauf gelegt werden, nicht bei der Beschreibung des Horrorszenarios stehen zu bleiben, sondern Alternativen zur Kernenergie aufzuzeigen und gemeinsam Lösungen zu eigenverantwortlichem Handeln zu entwickeln. Vor der Lektüre des Romans können die Schüler erzählen, was sie bereits über Atomkraftwerke wissen. Haben sie schon einmal etwas von dem Reaktorunfall in Tschernobyl gehört? Es wäre hilfreich, parallel zur Textanalyse Hintergrundwissen etwa in Form von Referaten zu vermitteln (Vor- und Nachteile der Atomenergie, der Reaktorunfall in Tschernobyl und seine Folgen bis heute, ökologische Bewegung und Gründung der Partei Die Grünen in den 1980er Jahren, Beschluss des Atomausstiegs unter der rot-grünen Regierung 1998 – 2005, Nachdenken über ein Ende des Ausstiegs unter der schwarz-roten Regierung seit 2005, Probleme der Endlagerung von Atommüll, fließender Übergang zwischen friedlicher und militärischer Nutzung von Atomenergie, atomare Bedrohung in den 1980er Jahren und heute, regenerative Energien und sauberer Strom).
Als Einstieg in die Textanalyse geben die Schüler ihre ersten Leseeindrücke wieder: Welches Ziel verfolgt die Autorin wohl mit dem Roman? Überwiegt in dem Roman die Beschreibung des Schreckensszenarios oder das Aufzeigen alternativen Handelns? Ist das Szenario realistisch? Weiterführend liegt die Charakterisierung der unterschiedlichen Figuren im Hinblick darauf nahe, welche gesellschaftspolitische Haltung sie symbolisieren und wie sie mit der Situation nach dem Störfall umgehen (Großeltern väterlicherseits: unpolitisch, Kriegsgeneration; Eltern Janna-Bertas: seit Tschernobyl politisch aktiv; Großmutter mütterlicherseits: entspricht dem Bild der Alternativen der 1980er Jahre; Almut und Reinhard: großes Engagement nach dem Unfall; Helga: Vogel-Strauß-Politik; Janna-Berta: Entwicklung von unpolitischer Mitläuferin zu engagierter Mitstreiterin für eine bessere Umwelt; Uli: unschuldiges Opfer). Davon ausgehend können wichtige Bilder im Buch den Charakteren zugeordnet und deren Bedeutung entschlüsselt werden (Fahrrad, Teddy, Rapsfeld, Haarausfall, Perücke, Reis, Streuselkuchen). Abschließend bietet sich die Diskussion an, mit welchen gesellschaftlichen Figurenklischees man heute operiert. Gibt es heute noch eine Protestkultur? Und wenn ja, wie sieht sie aus? Welche Gruppierungen sind heute „die Alternativen“? Was ist heute zivilcouragiert und wie kann man sich politisch einbringen? Inwieweit tragen wir selbst Verantwortung für die großen Zusammenhänge? Will man produktiv-handlungsorientiert mit der Lektüre arbeiten, könnte man etwa ein Rollenspiel durchführen, bei dem Befürworter der Kernenergie mit Gegnern diskutieren. Natürlich bietet es sich an, die oben bereits erwähnte Verfilmung anzusehen und anschließend über die Unterschiede zu dem Roman nachzudenken: Wie wird das Thema im Film bearbeitet? Gibt es eine Themenverschiebung und andere Rollenzuschreibungen? Was hat sich im Hinblick auf politisches Handeln verändert? Weiterführende Unterrichtsmaterialien zum Film finden sich unter http://www.die-wolke.com. Ausgehend von diesem Vergleich schreiben die Schüler eine Buch- oder Kinokritik. Auch könnte der Unterricht ein geeigneter Rahmen sein, um politische Handlungen zu erproben. Denkbar wären etwa das Sammeln von Unterschriften gegen Atomenergie oder Interviews mit Mitschülern oder Passanten auf der Straße: Wie stehen sie zum Atomausstieg? Was wissen sie über Atomenergie? Kennen sie den Kinofilm und wenn ja, wie hat er ihnen gefallen? Glauben sie, dass unsere Atomkraftwerke sicher sind? Ein sicherlich sehr spannendes Projekt wäre es, ein Radiofeature zum Thema zu produzieren, das vielleicht von einem Offenen Kanal oder Freien Radio sogar gesendet wird.


empfohlen von Annette Kautt