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Junk von Melvin Burgess. Jugendbuchempfehlung

Melvin Burgess:

Junk

1. Bibliografische Angaben und Lesestufe

  • Melvin Burgess: Junk. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 2005, 368 S. (übersetzt von Heike Brandt, Originaltitel: Junk)
  • Lesestufe: 8./9. Klasse

2. Inhaltsangabe

Personen

  • „Tar“ (David): Schüler, Ausreißer, lebt in besetzten Häusern, nachdenklicher Charakter
  • Gemma: Schülerin, Freundin von Tar, mit 14 Jahren Ausreißerin von zu Hause, um Tar zu folgen, lebt in besetzten Häusern, neugieriger, lebenslustiger, „flippiger“ Charakter
  • Gemmas und Davids Eltern: Vertreter der bürgerlichen Mittelschicht, gestörter Kontakt zu den eigenen Kindern, z. T. Probleme mit Alkohol
  • Lily: mit 16 Jahren schon längere Zeit in der harten Drogenszene
  • Rob: Lilys Freund, ebenfalls schwer drogensüchtig
  • Sally: Freundin von Lily und Rob, selbst drogensüchtig, kommentiert das Geschehen
  • Richard: Fahrradmechaniker, Hausbesetzer, Anarchist, eine Art Vaterfigur für die jugendlichen Hausbesetzer, positiver, offener Charakter, solidarisch, hilfsbereit
  • Vonny: zeitweilige Freundin Richards, folgt linken Ideen
  • „Skolly“ (Joe Scholl): Kioskbesitzer, steht den Jugendlichen freundlich gegenüber, reflektiert aber auch den Niedergang des Viertels St. Paul in Bristol

Orte
Mineley-on-Sea: idyllischer, verschlafener Touristenort an der britischen Küste Bristol: nächstgelegene Großstadt

Handlung
Weil Tar von seinem Vater geschlagen wird, reißt er von seinem Zuhause in dem verschlafenen britischen Städtchen Mineley-on-Sea nach Bristol aus. Gemma folgt ihm wenig später, weil sie es ebenfalls bei ihren Eltern nicht mehr aushält. Die Beziehung zwischen den beiden ist von Beginn an nicht gleichwertig: Tar liebt Gemma, sie hingegen findet ihn sympathisch, liebt ihn aber nicht. In Bristol trifft Tar Richard, der verschiedene Hausbesetzungen leitet, und findet Unterschlupf in einem besetzten Haus. In der Wohngemeinschaft werden weiche Drogen in großen Mengen konsumiert, ansonsten geht alles seinen relativ geregelten Gang. Gemma passt das von Anfang an nicht, sie sucht im Gegensatz zu Tar das Abenteuer. Sie findet Anschluss an die Punk-Szene und lernt Lily und Rob kennen, die von Richard und seinen Mitstreitern mit Misstrauen betrachtet werden, weil sie harte Drogen konsumieren. Beide, Lily durch extrem provokantes Verhalten und die entsprechende Kleidung, Rob durch sein äußeres Erscheinungsbild, sind so weit aus jeder Form von Gesellschaft herausgefallen, dass sie auch von Anarchisten (Richard) und Linken (Vonny) skeptisch beargwöhnt werden. In der ersten Wohngemeinschaft gibt es von Anfang an Schwierigkeiten, weil Tar und Gemma so jung sind, und als das Zusammenleben nicht mehr funktioniert, ziehen die beiden zu Lily und Rob. Dort kommen sie in Kontakt mit harten Drogen, „Smack“, Heroin. Zuerst schnupfen die Jugendlichen das Heroin und sind überzeugt davon, ihren Konsum unter Kontrolle zu haben, obwohl Lily schon einmal stark heroinabhängig gewesen ist. Sie verklärt den Drogenmissbrauch zu einem Ausdruck von Freiheit gegenüber der spießigen Welt und bewertet jeden Einwand als eine Form der „Gedankenkontrolle“. Doch schon bald geraten die vier tiefer in den Strudel der Sucht hinein. Sie beginnen zu fixen, die gute Stimmung weicht zunehmend einer Atmosphäre der Gereiztheit und des Misstrauens auch untereinander. Sie sind längst süchtig, ohne es sich einzugestehen. Lily und Gemma werden Prostituierte, um das Geld für die Drogen zu verdienen, und selbst das wird gegenüber dem Dasein von Menschen, die 100 Stunden im Monat arbeiten, noch als Tat der Freiheit verklärt. Zum Lebensunterhalt gehört auch das Dealen, wofür die Jungen zuständig sind; sogar an Kinder werden Drogen verkauft. Tar, der Richard eigentlich mag, entfernt sich zunehmend von ihm und geht auch nicht auf dessen Angebot, ihn auf eine große Reise mitzunehmen, ein. Gemma treibt die Sucht immer weiter, Lilys Zustand verschlechtert sich. In dieser Lage wird Lily schwanger und will das Kind auch gegenüber allen Einwänden bekommen. Sie träumt von einem ganz neuen Leben durch das Baby, schafft es aber bis zum Schluss nicht, von der Droge wegzukommen. Ein Entzugsversuch auf dem Land scheitert kläglich. Gemma bemüht sich als einzige, halbwegs ernsthaft zu entziehen, kann sich aber in der Gruppe nicht durchsetzen. Das Bewusstsein, wirklich süchtig zu sein, kommt erst jetzt, sehr spät. Es geht weiter bergab. Bei einer Razzia fliegen die Jugendlichen schließlich auf. Tar entzieht in einer Klinik, wird aber am Tag seiner Entlassung wieder rückfällig. Auch Gemma geht inzwischen wieder in den „Massagesalon“, das Bordell, obendrein ist auch sie schwanger, vermutlich aber von Tar. In der Gruppe herrscht vollkommenes Chaos. Sunny, das Baby von Lily und Rob, wird schon mit Heroin beruhigt. Gemma erkennt, dass Lily vollkommen am Ende ist, und verständigt schließlich die Polizei. Sie selbst lässt sich von ihren Eltern nach Hause zurückholen. Dort bringt sie ihre Tochter Oona zur Welt und schafft es, clean zu bleiben. Tar zieht nach nochmaligem harten Entzug im Gefängnis zu ihr, aber die Beziehung hält nicht. Auf das Scheitern reagiert Tar mit Trinken und Gewalt. Er geht zum zweiten Mal fort aus Mineley, holt seinen Schulabschluss nach, findet eine feste Freundin, ist aber immer noch dabei, mit Methadon als Hilfsmittel zu entziehen. Es bleibt offen, ob er den Kampf gegen die Droge gewinnen wird. Auch was aus Lily und Rob wird, bleibt unklar, aber es gibt wenig Grund zum Optimismus. Richard ist im Begriff, eine Familie zu gründen, hat aber nichts von seiner solidarischen und kritischen Art verloren.

3. Kurzinformationen zum Autor

Melvin Burgess, 1954 in London geboren, ist einer der bekanntesten und meistdiskutierten Jugendbuchautoren Großbritanniens. Burgess greift Themen auf, die Jugendliche interessieren, und er schreibt auf eine herausfordernde, konfrontierende Weise, im Stil oft experimentell. So preisgekrönt und hochgelobt Burgess’ Bücher sind, so umstritten sind sie häufig auch: Darstellungen von „Milieu“ und Sexualität sorgen immer wieder für Diskussionen. Sein erstes Jugendbuch, The Cry of the Wolf (dt. Die letzten Wölfe), erschien 1990 und wurde gleich für einen Literaturpreis nominiert. Junk (1996, 1999 ins Dt. übersetzt) verschaffte Burgess in Deutschland so etwas wie den Status eines „Brit-Pop-Autors“. Der Roman wurde 1997 mit dem Guardian Children’s Fiction Award und der Carnegie Medal ausgezeichnet. Burgess’ letztes in deutscher Sprache vorliegendes Buch ist Doing it (2003, 2004 übersetzt).

4. Allgemeine Einordnung

Junk beschreibt das Abrutschen in die Drogenkarriere, den unaufhaltsamen Abstieg und den schwierigen Weg hinaus vor dem Hintergrund der Punk-Bewegung und Hausbesetzungen im Großbritannien der 1980er Jahre. Natürlich geht es auch um die Problematik des Drogenmissbrauchs allgemein – Rechtfertigungsstrategien, Abgrenzungsmechanismen und ihre Funktion, Entzug und seine Schwierigkeiten, Geldbeschaffung, körperliche und zwischenmenschliche Auswirkungen auf den Süchtigen –, insofern lässt sich Junk zum Beispiel gut mit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von Christiane F./Hermann/Rieck verknüpfen, daseine deutsche Drogenkarriere schildert. Vor allem zwei Besonderheiten machen Junk glaubwürdig und damit zu einer ausgesprochen spannenden und interessanten Lektüre:

  • die Kindlichkeit der Protagonisten: Obwohl einerseits ganz „frei“ von zu Hause und ein ganz anderes Leben als dort führend, rufen sie regelmäßig ihre Eltern an. Das Telefonkabel ist durchaus noch ein Stück Nabelschnur, die „Helden“ sind im Grunde noch Kinder. Unter diesem Aspekt lässt sich Junk sehr gut mit Engel und Joe vergleichen (vgl. Besprechung in diesem Buch).
  • die Gebrochenheit aller Charaktere: Auch ausgesprochene Sympathieträger weisen Brüche im Charakter auf. Richard, Anarchist, Hausbesetzer und Polit-Aktivist, findet sein Heil in der bürgerlichen Kleinfamilie (ohne allerdings selbst kleinbürgerlich-spießig zu werden). – Skolly, der mit den jugendlichen Hausbesetzern sympathisierende Tabakhändler, wirkt alles andere als bürgerlich, nennt sich aber zugleich einen echten Konservativen und spricht freimütig über seine gelegentlichen Bordell-Besuche. – Für Tars Vater, der Frau und Kind schlägt, wird zwar kein Verständnis gezeigt, aber dass er im vorletzten Kapitel zu Wort kommen darf, zeigt das Bemühen, ihn zu verstehen.

5. Strukturelle und sprachliche Aspekte

Die Handlung, die sich über vier Jahre erstreckt, wird chronologisch erzählt. Das Besondere an der Erzählweise ist, dass kapitelweise die Ich-Erzähler wechseln. Die dadurch erreichte Multiperspektivität kommt dem Buch sehr zugute, da sie das Interesse nicht nur auf die „Story“ lenkt, sondern auch verschiedene Sichtweisen auf das Geschehen ermöglicht. Der jeweilige Ich-Erzähler befindet sich oft in einem Dialog mit einem imaginären „Du“. Auch dieser Kunstgriff wirkt sich positiv aus: Die sprachliche Struktur wird aufgelockert und der Roman steht nicht nur als erzählte Geschichte da, denn die Leser fühlen sich über die direkte Anrede in die Handlung einbezogen. Das halb offene Ende – Gemma scheint dank ihres Kindes das Heroin überwunden zu haben, Tar ist auf dem richtigen Weg, aber noch nicht am Ziel, Lilys und Robs Zukunft bleibt ungewiss – ist glaubhafter als ein Happy End auf der ganzen Linie und gibt dem Roman zugleich einen mutigen, optimistischen Ausblick. Die Sprache ist behutsam jugendgerecht, ohne manieriert-aufgesetzt zu wirken. Heikle Themen wie Sexualität werden nicht ausgespart, aber mit der notwendigen Behutsamkeit – inhaltlich wie sprachlich – behandelt.

6. Didaktische Anregungen

Kreative Zugangsmöglichkeiten

  • zusätzliche Figuren einführen, um das Geschehen von weiteren Seiten zu betrachten, z. B. – einen Therapeuten, der mit den Eltern Tars und/oder Gemmas arbeitet, um die Ursachen für das Abhauen der Jugendlichen zu finden und zu diskutieren – einen Streetworker, der die Kids aus der City Street aus seiner Sicht schildert – einen Arzt/Psychologen, der Tars Entzugsversuch kritisch begleitet
  • Gerichtsverhandlung nach der Razzia --> Welche Schuld tragen die Jugendlichen selbst an ihrer Situation und wie ist damit umzugehen?
  • den wechselnden Ich-Erzählern entsprechend eine jeweils andere Antwortperspektive wählen, z. B.
    – wenn Gemma über ihr Zuhause schreibt --> Antwort ihrer Eltern
    – wenn Skolly über seine Einstellung zu Hausbesetzungen und Jugendlichen schreibt --> Einstellung seiner Kunden dazu
    – wenn Richard Tar auf seine Reise mitnehmen will --> Tars Begründung, warum er nicht mitfährt
  • Wechsel der Textsorte, z. B. Umformung der sehr persönlichen, subjektiven Geschichte in einen Bericht/eine Reportage: „Jugendliche Trebegänger in Bristol“
  • sukzessive Erarbeitung des Inhalts (--> Stationen des Abstiegs) und Entwicklung möglicher Handlungsalternativen (--> Was hätte an welcher Stelle anders laufen sollen und können?)
  • Zeitsprung: Die Betroffenen, sofern sie noch am Leben sind, treffen sich 20 Jahre später wieder und blicken auf ihre gemeinsame Zeit und was danach kam, zurück. Erarbeitung der Sachthemen in Form von Kurzvorträgen
  • Trebegänger --> Motive und Betroffene, Einblick in die Arbeit der Treberhilfe (z. B. in Berlin)
  • Hausbesetzerbewegung in Großbritannien und Deutschland
  • Punk: Musik, Lebensstil und Mode
  • Drogen und Sucht

Fazit

Für den Schulgebrauch ist Junk ein recht langes, aber in seiner Art sehr zu empfehlendes Buch zur Problematik: vielschichtig, nicht aufgesetzt, aufklärerisch, aber auch emotional berührend.