Engel und Joe von Kai Hermann. Jugendbuchempfehlung
Kai Hermann:
Engel und Joe
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Kai Hermann: Engel und Joe. Nach einer wahren Geschichte. München: Ullstein Taschenbuch, 2006, 240 S.
- Lesestufe: 9./10. Klasse
2. Inhaltsangabe
Personen
- Joe (Johanna): 15 Jahre alt, Ausreißerin, impulsiv, auch verträumt
- Zorro (Egbert Engel): Punk, Drogenvergangenheit, verträumt, chaotisch, wird von Joe „Engel“ genannt
- Joes Mutter: überfordert
- Mike: Freund von Joes Mutter, latent gewalttätig
- Zorros Eltern: kleinbürgerlich
- Asi: 13 Jahre alt, kindlich, Punk, in Zorro verliebt
- Alex: Mitglied einer schicken Skateboard-Clique, verwöhnt
- Iha: Sozialarbeiterin, stark esoterisch beeinflusst
- Punks am Alexanderplatz
Ort
überwiegend Alexanderplatz in Berlin
Handlung
Nachdem sie der Freund ihrer Mutter geschlagen hat, haut Joe aus der gemeinsamen Wohnung in Berlin-Friedrichshain ab. Sie läuft ziellos herum, trifft einen von der Polizei verprügelten Punk, dem sie widerwillig hilft, und kommt schließlich auf den Alexanderplatz. Dort belagern sich Skinheads und Punks misstrauisch. Bevor es zu handfesten Auseinandersetzungen kommt, kann Zorro, der Punk, dem Joe zuvor geholfen hat, sie aus der Gewalt heraushalten. Joe kann in Zorros „Zuhause“ übernachten – er wohnt in einer zum Abriss freigegebenen Kleingartenanlage. Joe ist auf Anhieb verliebt, Zorro kann seine Gefühle nicht richtig zeigen. Sie schlafen miteinander, treiben zusammen durch den Berliner Alltag und schnorren sich das Geld für Essen und Trinken auf der Straße zusammen. Zorro ist von zu Hause abgehauen, weil er in seiner Familie als Null angesehen wird. Obendrein ist er ein ehemaliger Junkie und warnt Joe vor sich selbst. Er hofft auf einen vom Jugendamt organisierten Ausbildungsplatz und eine Wohnung. Als Joe einmal zurück nach Hause geht, sieht sie, dass ihre Mutter Tabletten geschluckt hat, aber noch lebt. Sie kümmert sich um sie und verpasst dadurch eine Verabredung mit Zorro. Dieser wartet währenddessen eifersüchtig und tröstet sich mit Drogen und Asi. Als Joe und er sich wiedersehen, kommt es zum Streit, bei dem keiner auf den anderen hört. Als Konsequenz lässt sich Joe von Alex, einem der Skateboarder am Alexanderplatz, anmachen. Die ganze Situation zeigt, wie wenig die beiden mit ihren Gefühlen umgehen können. Joe kann ein paar Tage bei einer alten Frau bleiben, die sie kennengelernt und die ihr Hilfe angeboten hat. Sie geht weiter zur Schule. Zorro trifft sie bei der Beerdigung eines anderen Punks wieder und die beiden versöhnen sich. Joe zieht wieder zu Hause ein und träumt tief im Inneren den Traum von einem geordneten, bürgerlichen Leben mit Zorro. Das Paar besucht auch Zorros Eltern, die in einer kleinstädtischen Bungalowsiedlung leben, die die schlimmsten Klischees erfüllt. Der Vater entpuppt sich als verkappter Alkoholiker, die Mutter als Zwangscharakter. Im Verlauf der recht chaotischen Begegnung gibt Zorro die Verlobung mit Joe bekannt. Wieder in Berlin, sehen sie Asi, heruntergekommen, bettelnd. Am Ende einer Auseinandersetzung, in der Joe wohl von Zorros Nacht mit Asi erfährt, schlagen beide Mädchen auf Zorro ein. Als er sich erholt hat, läuft er Amok gegen alles, was ihm in den Weg kommt, bis er von der Polizei festgenommen wird. Joe, vorerst von Zorro getrennt, schläft mehr oder weniger bewusstlos auf einer Party mit Alex. Als Zorro, der inzwischen in der Jugendpsychatrie gewesen ist, entlassen wird, sucht Joe wieder den Kontakt zu ihm, da sie noch immer an ihm hängt. Nach einer Weile merkt sie, dass sie schwanger ist. Es ist unklar, ob Zorro oder Alex der Vater ist. Sie möchte das Kind bekommen und erhält eine Zusage für einen Platz in einem Mutter-Kind-Projekt. Am Alexanderplatz geben Joe und Zorro nochmals ihre Verlobung bekannt. Im Verlauf einer Rangelei erhält Zorro eine Anzeige wegen Körperverletzung. Das Jugendamt teilt Joe mit, dass es die Vormundschaft sowohl für ihr Kind als auch sie selbst übernehmen will. Joe zieht in das Appartement, in dem sie mit ihrem Baby leben soll. Es entspricht ihrer Lebensweise absolut nicht und Zorro darf dort nicht übernachten. „Skateboard-Alex“ verspricht, zu seiner Verantwortung zu stehen, falls er der Vater des Kindes ist. Zorro macht einen ausbildungsvorbereitenden Lehrgang, schmeißt ihn aber schon nach kürzester Zeit hin und handelt sich obendrein eine Anzeige vom Ausbilder ein. Joe bekommt Schwierigkeiten, weil Zorro bei ihr übernachtet hat, was von der Sozialarbeiterin Iha relativ streng überwacht wird. Zorro wird bei der Polizei vorgeladen. Ihm werden verschiedene Delikte zu Last gelegt, doch er kann fliehen. Er sucht Zuflucht bei Joe, es kommt zu einem Gerangel mit Iha, die Wohnung wird verwüstet. Sie fliehen und übernachten, Joe hochschwanger, auf dem Friedhof. Am folgenden Tag bringt sie im Krankenhaus ihren Sohn David Che zur Welt. Zorro verhält sich vergleichsweise fürsorglich, bemüht sich auch in zwei Jobs – vergeblich. Schließlich wird er als Tankstellenräuber gefasst. Joes letzte Chance ist ein Mutter-Kind-Projekt weitab von der Stadt. Dort wird sie von Alex regelmäßig besucht, aber die beiden finden nicht zueinander. Wieder zu Hause, steht Zorro vor der Tür. Er verprügelt Mike und Alex und flieht zum Alexanderplatz, wohin Joe ihm mit dem Kind folgt. Dort gesteht er ihr, dass er inzwischen wieder drogensüchtig ist. Am Zoo werden beide von der Polizei und Iha aufgegriffen, das Kind wird ihnen weggenommen und zu Pflegeeltern gebracht. Es gelingt ihnen, nach Hamburg zu entkommen, wo sie in den schlimmsten Drogensumpf geraten. Als die letzte Stufe der Leiter fast erreicht ist – Joe ist kurz davor, für Zorro und auch sich selbst „anschaffen“ zu gehen –, entschließt sie sich zurückzufahren. Ein Zeitsprung verrät, dass Joe allein mit David Che in Berlin leben wird und Abitur machen will.
3. Kurzinformationen zum Autor
Kai Hermann, Jahrgang 1938, Journalist, arbeitet für vor allem für DIE ZEIT, Spiegel und Stern und ist (Co-)Autor zahlreicher Bücher und Drehbücher, darunter Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und Andi. Der beinahe zufällige Tod des Andreas Z., 16. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Sein Interesse gilt Außenseitern jeder Art. Als ein Problem Jugendlicher sieht er an, dass es immer schwerer wird, die natürliche Abenteuerlust auszuleben: Der Druck zur Anpassung steigt, wer sich dem entzieht, gerät an den Rand der Gesellschaft. Kai Hermann selbst reiste nach der Schule ein Jahr mittellos durch Nord- und Südamerika, lebte währenddessen meist selbst auf der Straße und hat so das Leben aus der Perspektive kennengelernt, aus der er es später beschreibt.
4. Allgemeine Einordnung
In Engel und Joe geht es um die Ausläufer der Punk-Bewegung in der Nachwendezeit in Berlin: um die Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen, das Lebensgefühl des Punk, Drogenkonsum, Sucht und Alkoholismus als Ausdruck der Jugendkultur und des jugendlichen Protests, um ungewollte Schwangerschaften und Sinn und Sinnlosigkeit sozialer Arbeit. Diese jugendtypischen Fragestellungen (Lebensstil, Abgrenzung, Provokation, Drogen) sind aber nur ein interessanter Aspekt: Das bewegte Auf und Ab der Titelfiguren, der Handlungsreichtum („Action“) und die Unmittelbarkeit der Sprache machen Engel und Joe ebenso für Jugendliche attraktiv. 2001 wurde Engel und Joe auch verfilmt. Insgesamt wird die Geschichte sehr authentisch erzählt, sie ist jedoch nicht frei von Klischees; teilweise wird die Wirklichkeit etwas vereinfacht (die Gegenüber-Iha, die gutmütige Oma auf dem Friedhof, der abstoßende Freund der Mutter etc.). Engel und Joe ist eine Art subjektiver Bericht, „Doku-Fiction“, was dazu führt, dass die Punk-Szene weniger differenziert dargestellt ist als zum Beispiel in dem Roman Junk von Melvin Burgess. Genauso wie Junk stellt auch Engel und Joe die Kindlichkeit seiner Protagonisten heraus: Mit dem Anspruch, ein ganz eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen, sind diese im Grunde überfordert. Engel und Joe ist, da auch vom selben Autor bearbeitet, bei einer unterschiedlichen thematischen Schwerpunktsetzung strukturell Wir Kinder vom Bahnhof Zoo ähnlich (Jugendsprache, Drogenjargon). Auch hier wäre eine Verknüpfung deshalb interessant.
5. Strukturelle und sprachliche Aspekte
Die Geschichte von Engel und Joe, die sich über etwa ein bis zwei Jahre erstreckt, wird linear fortschreitend erzählt und ist auch relativ geschlossen: Man erfährt von beiden Protagonisten, aus welchen Gründen sie von zu Hause abgehauen sind, die Handlung kommt zu einem Abschluss. Zorro wird es nicht schaffen, während Joe am Ende der chaotischen Situation entkommen zu sein scheint und praktisch noch einmal von vorn beginnt. Trotz zahlreicher Nebenfiguren liegt der Fokus der Geschichte klar auf den beiden Hauptfiguren, worauf auch der Titel hindeutet. Erzähltempus ist das Präsens, was für Unmittelbarkeit und Tempo sorgen und damit dem Lebensgefühl der Hauptfiguren entsprechen soll. Das Buch ist sprachlich im rauen, authentischen Slang der Punk-Bewegung verfasst. Auch das zielt auf eine unmittelbare und ungekünstelte Wirkung. Jugendliche Leser kann diese Sprache durchaus anziehen, wie der (bis heute andauernde) Erfolg von Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, bei dem Kai Hermann als Co-Autor mitgewirkt hat, zeigt. Auf die Dauer des gesamten Buches kann diese Sprache aber auch aufgesetzt und künstlich wirken.
6. Didaktische Anregungen
Mögliche Schwerpunkte für den Unterricht (neben einer Erarbeitung wesentlicher Stellen im Unterrichtsgespräch):
Unterschiedliche Lebensformen: Was ist eigentlich „normal“?
- Joes Traum von einem fast kleinbürgerlichen Leben und ihr tatsächliches Leben --> Gegenüberstellung
- Unter welchen Umständen könnte Joe bei ihrer Mutter wohnen? --> Szene schreiben
- Joes lebt in einem Jugendwohnprojekt – hat sie Probleme? Wenn ja, welche? --> Kapitel/Szene schreiben
- Interview mit den Punks vom Alexanderplatz: Was wollt ihr eigentlich? Was stört euch an der Gesellschaft? Wie wollt ihr leben? (etc.)
- Interview mit Passanten auf dem Alexanderplatz: Stören Sie diese Leute? Wenn ja, warum? Was würden Sie davon halten, wenn Ihre Tochter oder Ihr Sohn dabei wäre? Wie stellen Sie sich die Zukunft für Ihre Kinder vor? Was, meinen Sie, wollen diese Jugendlichen erreichen? (etc.)
- Joe bleibt bei Alex: Wie könnte ihr Leben dann aussehen? Welche Schwierigkeiten hätte sie, könnte sie sich umstellen und anpassen? --> Handlungsalternative, Fortsetzung, Szene schreiben
Das Lebensgefühl des Punk von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart
- Punk als Teil der Jugendkultur seit den 1970er Jahren --> Recherche, Bericht, Reportage
- Musik und Auftreten als Zeichen des Protests --> Kurzvortrag, Musikbeispiele, evtl. Film
- Punk – Mode oder Ausdruck einer Geisteshaltung? --> Diskussion
- Punks und Skinheads – Vergleich, Ursachen, Absicht der Provokation --> Diskussion
- Gespräch mit einem Sozialarbeiter oder Streetworker über die Arbeit mit Jugendlichen aus der Punk- bzw. Drogenszene, Schwierigkeiten und Perspektiven --> Interview, Reportage
Drogenmissbrauch und seine Folgen
- Rolle (Ursachen, Folgen) der Drogen, v. a. auch des Alkohols, für die Handlung untersuchen
- Drogen und ihre Wirkung --> Kurzvorträge, Gruppenarbeiten
- Drogen an unserer Schule/in unserer Stadt --> Umfrage, Bericht
- Einladen von Experten (Polizei) oder Besuch einer Drogenberatungsstelle --> Bericht
- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von Christiane F./Hermann/Rieck --> Buchvorstellung/Film
Ungewollte Schwangerschaften
- Welche Alternativen gibt es? --> Diskussion der Möglichkeiten für Joe (Kind behalten, zur Adoption freigeben, Pflegefamilie, Jugendamt/Heim, Schwangerschaftsabbruch), Durchspielen der verschiedenen Szenarien in Dialogen, Erzählungen, Tagebuch:
– Joe behält das Kind. (Fortsetzung der Handlung)
– Sie hat das Kind zur Adoption freigegeben. – Sie weiß, dass David Che in einer Pflegefamilie untergebracht ist und möchte ihn besuchen.
– David Che ist in einem Heim untergebracht, Joe möchte ihn zu sich holen. - Durchspielen einer Konfliktberatung
- Besuch einer Konfliktberatungsstelle
Einzelne Figuren
- Die Sozialarbeiterin Iha:
– Wie wirkt sie auf den Leser? Welche Interessen verfolgt sie? Inwiefern treffen ihre Ratschläge Joes Situation, inwiefern verfehlen sie sie? --> Charakteristik schreiben
– Iha im Gegenüber zu einem nüchternen, nicht esoterisch beeinflussten Sozialarbeiter: Kommt es zu einer anderen Einschätzung des Falls? --> Szene schreiben - Opa Addi (ein älterer Einzelgänger am Alexanderplatz, der von den Punks respektiert wird, bis er als Altnazi entlarvt wird) --> Szene, Abschiedsbrief o. Ä. verfassen
- „Spasti“: Punkerin mit Durchblick, aber ohne Perspektive --> Figur ausbauen und/oder charakterisieren