Die Sentinel von Peter Carter. Jugendbuchempfehlung
Peter Carter:
Die Sentinel
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Peter Carter: Die Sentinel. Sklavenschmugglern auf der Spur. Stuttgart: Freies Geistesleben, 1995, 272 S.
(aus dem Englischen von Ute Mäurer und Ulrich Mihr, Originaltitel: The Sentinels) - Lesestufe: 7. – 8. Klasse
2. Inhaltsangabe
Als der 15-jährige John Spencer 1840 verwaist, wird er als Offiziersanwärter zur Royal Navy, der englischen Marine, geschickt. Johns Schiff, die Sentinel, soll an der westafrikanischen Küste den Sklavenhandel unterbinden. Zunächst wird Johns Eingewöhnung in den Schiffsalltag beschrieben. Parallel werden zwei weitere Handlungen erzählt: Lyapo, ein junger afrikanischer Bauer, wird von Sklavenhändlern brutal festgenommen und verschleppt. Außerdem bricht ein Schiff namens Phantom auf, um Sklaven aus Afrika abzuholen.
Die Orte der drei Handlungen rücken immer näher zusammen: Die beiden Schiffe steuern auf die Westküste Afrikas zu und auch der junge Sklave wird durch das Inland ans Meer gebracht. Schließlich nimmt die Phantom Sklaven, darunter Lyapo, auf und tritt ihren Rückweg nach Amerika an. Aus Lyapos Sicht wird die grausame Versorgung und Unterbringung unter Deck geschildert. Als die beiden Schiffe aufeinandertreffen, gelingt es der Sentinel nach langen Kämpfen und einer Verfolgungsjagd, die Phantom einzunehmen.
John wird zum Kommandanten der Phantom ernannt. Er soll die befreiten Sklaven nach Freetown in Sierra Leone bringen, wo sie in Freiheit ein neues Leben beginnen können. Die gefangen genommene Mannschaft des Sklavenschiffes mit ihrem Kapitän Kimber soll dort auf ihren Prozess warten. Auf der Fahrt gelingt es ihr jedoch, die neue Besatzung zu überwältigen und zu töten. Nur John überlebt, weil er – ebenso wie Lyapo – im Kampf über Bord geht. Die beiden können sich in ein kleines Beiboot retten und rudern mehrere Tage, bis sie einen verlassenen Küstenstreifen erreichen. Undurchdringlicher Wald, Sümpfe und das Meer zwingen sie, dort zu verharren. John und Lyapo schaffen es, sich zu versorgen und zu verständigen, indem sie sich gegenseitig ihre Sprachen lehren. Nach Wochen werden sie entdeckt, gerettet und auf die Sentinel gebracht, die in der Zwischenzeit weitere Sklavenschiffe gekapert hat.
Als die Sentinel Freetown erreicht, entscheidet sich Lyapo, dort zu bleiben, obwohl man ihm eine Anstellung als Matrose angeboten hat. John kehrt als Zeuge gegen Kimber, der inzwischen gefasst worden ist, nach England zurück und wird, wie der Epilog verrät, in der Royal Navy Karriere machen.
3. Kurzinformationen zum Autor
Peter Carter (1929–1999) arbeitete nach einem Literaturstudium in Oxford als Lehrer. Als er entdeckte, dass seine Schüler sich wenig für die traditionellen Kinder- und Jugendbücher interessierten, begann er, selbst zu schreiben. Er erzählt meist historische Geschichten, in Kinder des Buches geht es beispielsweise um die Belagerung Wiens 1683 und das Jugendbuch Abschied von Cheyenne handelt von der Besiedlung des amerikanischen Westens. Seine Bücher zeichnen sich durch eine sehr genaue Charakterisierung der Personen, aber auch durch spannende Unterhaltung aus. Die Sentinel ist wahrscheinlich von der Tätigkeit des Vaters bei der Royal Navy beeinflusst. Das Buch wurde mit dem Guardian Children’s Award und dem Premio Europeo di Letteratura Giovanile ausgezeichnet.
4. Allgemeine Einordnung
Carters Roman Die Sentinel ermöglicht im Deutschunterricht der Klasse 7 oder 8 den Zugang zu einem historischen Thema, das im Geschichtsunterricht leider oft keinen Platz findet: dem Sklavenhandel. Durch die Schilderungen aus der Sicht des Afrikaners Lyapo bekommt die Grausamkeit dieser Zeit ein Gesicht. Ausgehend von den historischen Ereignissen kann die Textanalyse natürlich zu weiteren aktuellen Themen wie Gleichberechtigung und Bedeutung der Menschenrechte führen. Im Rahmen des Deutschunterrichts bietet das Buch zahlreiche textimmanente Möglichkeiten; aufgrund der genau beschriebenen Personen
lässt sich besonders die Aufsatzform Personencharakteristik gut erarbeiten. Die Lektüre bietet sich gerade in Klassen mit einem sehr hohen Jungenanteil an, da die spannenden Schilderungen der Kämpfe und die vielen Erläuterungen zur Arbeit auf See vor allem die Jungen beim Lesen begeistern.
Neben der Textanalyse ist ein fächerübergreifendes Arbeiten sehr sinnvoll. Für die Besprechung der historischen Hintergründe (Sklavenhandel, Befreiungsversuche der Royal Navy, evtl. auch der späterere Bürgerkrieg in den USA) eignen sich die Fächer Geschichte oder Englisch. Im Erdkundeunterricht können die Schüler die Wege der Schiffe nachvollziehen, besonders die Orte der afrikanischen Westküste sollten dabei auf einer Karte zugeordnet werden. Der Themenkomplex Menschenrechte und die heutige Diskriminierung von Menschen mit anderer Hautfarbe (z. B. von Afroamerikanern) können auch im Politik- oder Ethikunterricht behandelt werden.
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Das Buch umfasst 272 Seiten und enthält neben der Romanhandlung eine Karte der afrikanischen Westküste und einen Anhang mit Erläuterungen zu nautischen Fachbegriffen. Der Text ist in 31 nummerierte Kapitel und einen Epilog eingeteilt. Die Geschichte lebt von der interessanten Verknüpfung der beiden Hauptpersonen und der unterschiedlichen Handlungsorte. Am Anfang bewegen sich die drei Handlungsstränge (die Sentinel, die Phantom und der gefangene Lyapo) aufeinander zu, so dass der Leser bereits ahnt, dass es zu einem spannenden Kampf kommen wird. Die Sichtweisen Johns und Lyapos bieten den Schülern dabei zwei unterschiedliche Perspektiven des Themas Sklavenhandel an. Obwohl der Wechsel von Handlungsorten und Blickwinkeln das Buch so spannend macht, schafft genau dieser natürlich für schwächere Leser auch Verwirrung. Im Unterricht sollten daher die ersten Kapitel gemeinsam gelesen werden, um Orte, Personen und deren Haltung zum Sklavenhandel zu strukturieren (s. u.).
Neben dem Aufbau ist auch die Sprache des Buches für Schüler der 7. und 8. Klasse sicherlich nicht einfach. Die Sätze sind oft recht verschachtelt und es werden viele Begriffe benutzt, die den Schülern nicht geläufig sein werden. Andererseits ist das Buch natürlich für leistungsstarke und lesebegeisterte Klassen eine angenehme Herausforderung, da der Inhalt und der historische Hintergrund sehr spannend sind.
6. Didaktische Anregungen
Einstieg in die Besprechung
Um das Vorwissen der Schüler einzuschätzen, ist es sinnvoll, mit einem historischen Bild (auf einer Folie) einzusteigen, das Schwarzafrikaner bei der Arbeit auf einer Plantage oder während eines Transports nach Amerika zeigt. Die Schüler sollen zunächst beschreiben, was sie sehen, und dann Vermutungen anstellen, wieso diese Menschen arbeiten, gefesselt sind etc. Anschließend können sie frei erzählen, was sie bereits über den Sklavenhandel wissen. Dieses Vorwissen kann in Stichworten auf einem Plakat gesichert und an späterer Stelle mit den in der Unterrichtsreihe erarbeiteten Fakten verglichen werden.
Zu Beginn der Besprechung der Lektüre sollte man – wie bereits oben erwähnt – die ersten zwei Kapitel mit den Schülern gemeinsam lesen. Auf diesen acht Seiten werden alle drei Handlungsstränge und Schauplätze vorgestellt (Lyapo wird im heutigen Nigeria gefangen, die Sentinel sticht in Northampton und die Phantom in Baltimoore in See). In einem Tafelbild können die drei Orte in Spalten notiert und die jeweiligen Personen zugeordnet werden. Außerdem sollte man sehr genau die Haltung der beiden Schiffe zum Sklavenhandel besprechen (Sentinel: will Sklavenhandel verhindern, Sklaven befreien und Händler bestrafen; Phantom: will Sklaven wie eine Ware nach Amerika bringen, um Geld zu verdienen), da 10 sonst die gesamte weitere Lektüre missverstanden werden könnte. Nun können die Schüler das Buch alleine zuhause weiterlesen. Aufgrund des recht großen
Umfangs und der manchmal komplexen Handlung ist es aber sicherlich sinnvoll, die Schüler nicht mit dem gesamten Buch alleine zu lassen, sondern immer nur einzelne Kapitel als Hausaufgabe aufzugeben. Die Handlungsorte der gelesenen Kapitel können dann jeweils zu Beginn der Stunde in eine große Weltkarte oder eine Karte der afrikanischen Westküste eingezeichnet werden.
An dieser Stelle bietet es sich nun an, auch andere Fächer einzubeziehen (wie unter 4. vorgeschlagen).
Personencharakteristik I: Die Mannschaft der Sentinel
Da Carter zahlreiche Personen sehr ausführlich beschreibt, bietet das Buch viel Material für die Aufsatzform Personencharakteristik. Sicherlich würde es die Schüler überfordern, alleine Textstellen zu den Personen zu finden, hier sollte
der Lehrer eine Vorauswahl treffen. Besonders die Mannschaft der Sentinel wird sehr genau charakterisiert, so zum Beispiel der Kapitän Murray auf den Seiten 43–45, während er mit der Mannschaft eine christliche Messe abhält. Mit konkreten Leseaufträgen (Was denkt Murray über die Sklaven? Was hält die Mannschaft von Murray?) können sich die Schüler dem Charakter des Kapitäns nähern; die entsprechenden Textstellen unterstreichen sie verschiedenfarbig.
Murray kann dann direkt mit dem Ersten Offizier Brooke verglichen werden, wiederum anhand der Beschreibung der Messe (S. 43–45). Die Schüler sollen vermuten, warum Brooke sich so anders verhält als sein Kapitän („Brooke starrte verächtlich geradeaus.“, S. 44). Wenn bereits bei Kapitän Murray herausgearbeitet worden ist, dass die religiöse Überzeugung auch mit bestimmten Werten (z. B. der Nächstenliebe) verbunden ist, kann man nun fragen, ob Brooke diese Werte fehlen. Dazu wird die Episode gelesen, in der Brooke John ohne jeden ersichtlichen Grund einen Mast hochklettern lässt (S. 49–53). Auch hier erarbeiten die Schüler mit leitenden Fragen die Eigenschaften des Offiziers: Warum muss John auf die Spitze des Mastes klettern? Mit welchen Adjektiven und Verben werden Brooke und seine Stimme beschrieben? Wie reagiert die Mannschaft auf
Brookes Verhalten? Die Ergebnisse werden dann z. B. in einem Brief Johns an seine Verwandten produktionsorientiert verarbeitet. Abschließend sollte man auf die Entwicklung Brookes im Laufe des Geschehens eingehen, er lässt immer menschlichere Züge sichtbar werden (S. 156: „Anflug menschlicher Wärme“). Die Schüler können auch die Aufgabe erhalten zu erklären, was ein Besatzungsmitglied am Ende des siebten Kapitels mit folgender Aussage meint: „Und wir sollen diese Schwarzen befreien (…). Verdammt. Die sollten sich lieber mal um uns kümmern.“ (S. 53)
Personencharakteristik II: Der Umgang mit Macht
Betrachtet man die Autoritäten auf den Schiffen, so wird deutlich, dass jede sehr unterschiedlich mit ihrer Befehlsgewalt umgeht. Dies deutet sich bereits in dem oben beschriebenen Vergleich von Kapitän Murray (betet immer wieder, hat „eine Abneigung gegen Auspeitschungen“, S. 45, kümmert sich besorgt um John) und Offizier Brooke (verachtet Murrays Gläubigkeit, schikaniert John, entwickelt sich jedoch) an, kann im Anschluss an die Charakterisierung von Einzelpersonen aber noch einmal z. B. unter Einbeziehung des Kapitäns des Sklavenschiffes Kimber explizit herausgearbeitet werden.
Vor allem interessant ist Johns Umgang mit seiner zunehmenden Macht an Bord. In diesem Zusammenhang sollte besonders folgende Textstelle bearbeitet werden: „Es war im Laderaum, wo er, auf allen vieren, den zweideutigen Geschmack der Macht zum ersten Mal kostete.“ (S. 93) John muss mit zwei Männern eine Aufgabe ausführen und erwähnt das Fehlverhalten der beiden später nicht, nimmt seine Kollegen also vor dem Vorgesetzten Brooke in Schutz, obwohl er in der Position ist, sie „anzuschwärzen“ (S. 93–97). Als John von Murray zum Fähnrich ernannt wird, löst dies bei ihm „Stolz und Verlegenheit“ (S. 109) aus. Seine Unsicherheit, aber auch sein absolutes Pflichtbewusstsein werden besonders deutlich, als er das Kommando über die Phantom übernimmt (S. 166 ff.). Jede Entscheidung muss eigentlich vom Bootsmann Thomas getroffen werden, da John völlig überfordert ist; dennoch will sich der Junge nicht einmal Schlaf gönnen, aus Angst, seiner Verantwortung nicht gerecht zu werden.
Die Auseinandersetzung mit Machtstrukturen kann mit Sachtexten (auch im Religions- oder Ethikunterricht) vervollständigt werden. Zudem sollte man besprechen, wie sich Ausübung von Macht auch im Umgang mit den Sklaven widerspiegelt.
Personencharakteristik III: Lyapo
Die Figur Lyapo kann sicherlich nicht anhand einer Textstelle charakterisiert werden und eignet sich auch nicht für einen Aufsatz zur Personencharakteristik, da sich ihre Lebensumstände völlig verändern, was zu immer neuen Konflikten führt. Dies ist für Schüler nicht in einem einzigen Text zu fassen. Hier bietet es sich eher an, mit der Klasse Lyapos Entwicklung schrittweise nachzuvollziehen. Auf diese ausführliche Behandlung sollte nicht verzichtet werden, da Lyapo den Sklaven, die oft als große Masse dargestellt werden, ein Gesicht gibt und so für die Schüler das individuelle Leid fassbar wird.
Zunächst werden die Stationen von Lyapos Verschleppung notiert. Die Schüler nehmen sich arbeitsteilig einzelne Kapitel vor und zeichnen den Reiseweg in eine Karte ein. Im Unterricht werden dann einzelne Stationen herausgegriffen (z. B. S. 9: vor der Verhaftung, S. 109 ff.: an Bord der Phantom, S. 189 ff.: gestrandet mit John, S. 244 ff.: als Matrose auf der Sentinel, S. 268: Lyapos Leben in Freetown einige Jahre später), die die Schüler wiederum arbeitsteilig untersuchen. Hierzu bekommen sie Leitfragen, die sie in einem Vortrag beantworten sollen: Wie ist Lyapos äußere Lebenssituation? Welche Gefühle hat er in dieser Situation? Wie wird er von seinen Mitmenschen behandelt und eingeschätzt? Nach den Vorträgen setzen die Schüler die Analyseergebnisse produktionsorientiert in innere Monologe um, anschließend werden Monologe zu verschiedenen Handlungszeitpunkten miteinander verglichen und ggf. Veränderungen herausgearbeitet. Die Zeit, die John und Lyapo alleine an der verlassenen Küste verbringen müssen (ab S. 189), ist eine für die jungen Leser besonders interessante Episode und kann deshalb noch einmal aufgegriffen bzw. ausführlicher analysiert werden. Untersuchen können die Schüler die Arbeitsteilung und die veränderte Beziehung der beiden Gestrandeten. (Bei dieser Textstelle kann darüber hinaus auch das Spiel „Dame“, das John und Lyapo zum Zeitvertreib spielen, als Symbol besprochen werden; hier brauchen die Schüler wahrscheinlich eine enge Anleitung durch den Lehrer.)
Alternativ ist es zur Auseinandersetzung mit Lyapos Leben auch möglich, folgendes Szenario zu konstruieren: Eine britische Zeitung möchte ein Interview mit dem Afrikaner führen, in dem er über seine Erfahrungen und sein Leben berichten soll. Damit die Interviews nicht zu oberflächlich werden, plant die Zeitung eine Fortsetzungsreihe und jeweils eine Schülergruppe erhält den Auftrag, das Interview zu einem bestimmten Lebensabschnitt zu führen. Die Texte können dann getippt und als Wandzeitung ausgehängt werden.
Empfohlen von Christiane Althoff