Krokodil im Nacken von Klaus Kordon. Jugendbuchempfehlung
Klaus Kordon:
Krokodil im Nacken
(S)eine Innenansichten geben sensiblen Einblick in den Alltag der DDR, ohne an Sentimentalität zu ersticken. (…) Kordon schreibt und beschreibt vorurteilsfrei bis in Feinheiten, ohne Groll und Verbitterung. (…) Vor den Lesern, die nahezu nichts mehr von der DDR als totalitärem Staat oder vom ostdeutschen Alltag wissen, breitet sich ein Panorama aus, das Kordon hervorragend mit menschlichen Wünschen und Ängsten verwoben hat. Genauer und verlässlicher könnte der Blick darauf nicht sein (…).
(FAZ, 03. 12. 2002)
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Klaus Kordon: Krokodil im Nacken. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2005, 796 S.
- Lesestufe: 10. Klasse
2. Inhaltsangabe
1972 wagen Manfred Lenz und seine Frau Hannah mit den beiden Kindern Silke und Michael die Flucht aus der DDR. Sie reisen nach Bulgarien, wo sie angeblich Urlaub machen wollen, um sich dort mit Hannahs westdeutscher Schwester zu treffen, die durch Kontakte Westpässe für die Familie kaufen konnte. Noch vor der Passübergabe kommt es allerdings zur Verhaftung. Man trennt die Familie: Manfred wird nach kurzer Haft in Bulgarien nach Ostberlin geflogen und kommt in das Stasi-Untersuchungs-gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, wo er zunächst lange Zeit in Einzelhaft verbringt. Seine Frau befindet sich ebenfalls dort, allerdings in einer anderen Zelle. Beide werden schließlich zu fast drei Jahren Haft verurteilt. Die Kinder hat man in Heimen untergebracht. Ein Jahr nach ihrer Verhaftung werden Hannah und Manfred von der BRD freigekauft. Silke und Michael dürfen erst ein weiteres Jahr später folgen. In den Monaten der Haft blickt Manfred (Manne) auf sein bisheriges Leben zurück: Geboren 1943, wächst er nach dem Krieg im Hinterzimmer der Kneipe der Mutter am Prenzlauer Berg auf, sein Vater ist gefallen. Er erlebt den Einmarsch der sowjetischen Panzer am 17. Juni 1953 als faszinierter und erschrockener 10-Jähriger. Nachdem seine Mutter gestorben ist, kommt der Junge in ein Kinderheim, das ihn zu einem guten Sozialisten erziehen soll, und später in ein Jugendwohnheim nahe der verlockenden Grenze zu Westberlin. Kurz nach dem Mauerbau im August 1961 flüchten seine besten Freunde; Manfred entscheidet sich jedoch zu bleiben. Schließlich lernt er Hannah kennen und die beiden heiraten sehr früh. Der literarisch ambitionierte und theaterinteressierte Manfred, der bisher nur als Hilfsarbeiter gearbeitet hat, holt nun zahlreiche berufliche Qualifikationen nach. Währenddessen absolviert er sehr distanziert seinen Wehrdienst und die beiden Kinder werden geboren. Schließlich schafft er den Aufstieg zum Exportkaufmann, der ihm Reisen nach Asien ermöglicht. Trotzdem ist das Paar nicht glücklich. Die Tochter kommt immer häufiger mit sozialistischen Überzeugungen aus der Grundschule und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wird Hannah und Manfred zunehmend deutlich, dass sie in einem alles kontrollierenden, unmenschlichen Staat leben. Das „Krokodil“, die eigentliche innere Überzeugung, die sie zu verleugnen drohen, wird spürbarer; sie entschließen sich zur Flucht. Die Rückblenden werden immer wieder durch endlose Verhöre der Stasi, chikanen der Aufseher und Erlebnisse mit verschiedenen Mithäftlingen unterbrochen. Zudem bekommt der Leser einen Eindruck von der unvorstellbaren Situation der Einzelhaft, der völligen Isolation und dem ständigen Schwanken zwischen Resignation und Festklammern an der Hoffnung.
3. Kurzinformationen zum Autor
Der Protagonist Manfred Lenz ist das Alter Ego Klaus Kordons, die Lebenswege sind nahezu identisch, und die zahlreichen autobiografischen Züge lassen die Geschichte noch authentischer und bedrückender erscheinen: Auch Kordon wuchs in der Nachkriegszeit alleine mit seiner Mutter im zerbombten Berlin auf. Nach deren Tod 1956 lebte er in verschiedenen Jugendheimen der DDR. Er holte das Abitur nach, studierte Volkswirtschaft und besuchte als Exportkaufmann zahlreiche Länder. Nach einjähriger politischer Haft gelangte er in die BRD. Heute lebt Kordon in Berlin und arbeitet seit 1980 ausschließlich als Schriftsteller. Zu seinem 60. Geburtstag wurde das Werkstattbuch Klaus Kordon von Barbara Gelberg herausgegeben, in dem sich zahlreiche weitere Informationen und Interviews mit dem Autor finden. Viele seiner Jugendbücher spielen in der neueren deutschen Geschichte, so z. B. Ein Trümmersommer, Die Zeit ist kaputt (eine Biografie Erich Kästners) und auch die Triologie der Wendepunkte, die das Schicksal einer Familie über drei Generationen (vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges) verfolgt. Krokodil im Nacken wurde 2003 mit dem Preis der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet.
4. Allgemeine Einordnung
Der Roman vermittelt nicht nur zahlreiche historische Fakten über die DDR, sondern ermöglicht anhand eines Einzelschicksals auch einen Zugang zur Grausamkeit des Systems. So schildert Kordon die Beklemmung, die durch die ständige Kontrolle vom Staat ausging, und das grausame Verhalten des Vernehmers der Staatssicherheit, der Manfred Lenz immer wieder mit psychologischen Tricks aushorchen und beeinflussen will. Lenz weiß zwar um dessen Methoden und reflektiert sie auch, dennoch ist er nicht davor gefeit, ihnen zu erliegen. Was dem Leser hier vorgestellt wird, ist kein Drittes Reich, keine SS, aber der Roman macht deutlich, auf welch subtile, anders grausame Art der Vernehmer es schafft, Manfred Lenz immer wieder psychologisch anzugreifen. Allerdings verurteilt das Buch die Unterstützer des Systems nicht nur, durch die Überlegungen des Protagonisten bekommt der Leser sogar Verständnis für die Gegenseite und kann somit die Wirklichkeit der DDR besser verstehen. Auch die Isolation, der Manfred Lenz in der Zelle ausgesetzt ist, wird sehr deutlich: „Der Autor erzählt dies meisterhaft, (…) so drastisch und plastisch, dass sich beim Leser klaustrophobische Gefühle einstellen.“ (Der Tagesspiegel, 06. 10. 2002)
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Die auffälligste Besonderheit der Lektüre ist sicherlich zunächst der Umfang. Der Roman umfasst 796 Seiten, die in drei sehr unterschiedlich lange Teile mit 5–15 Unterkapiteln eingeteilt sind (zum sinnvollen Umgang mit diesem Umfang siehe 6.). Die Sprache ist hingegen unproblematisch und dürfte leseerfahrenen Schülern in der 10. Jahrgangsstufe keine Schwierigkeiten bereiten. Die Handlung besteht, wie erwähnt, aus zwei parallel laufenden Geschichten: Zum einen werden die Erfahrungen während der Haft geschildert, zum anderen rekapituliert der Protagonist in Rückblenden sein gesamtes Leben. Beide Handlungen münden schließlich in der Ausreise in die BRD. Die Rückblenden sind durch Absätze erkennbar und für den Leser eigentlich unproblematisch, dennoch sollte die Handlung (in einem Lesetagebuch oder im Unterricht) an einem Zeitstrahl „sortiert“ werden. Der Roman wird von einem personalen Erzähler aus der Sicht von Manfred Lenz erzählt, dessen Gedanken und Gefühle dem Leser oft bedrückend nahe gebracht werden. Im Unterricht hat es sich in der Praxis als etwas problematisch erwiesen, dass die Jugendlichen sich mit einem jungen Familienvater kaum identifizieren können und empathisches Denken oft schwierig war; manche Schüler konnten z. B. nicht nachvollziehen, wieso Lenz sich so große Gedanken um die politische Zukunft seiner Tochter macht und nicht das sichere Familienleben als wichtiger ansieht.
6. Didaktische Anregungen
Die Bewältigung des Lesestoffes
Der Umfang des Buches mit seinen fast 800 Seiten schreckt viele Schüler zunächst ab, stellt aber auch eine spannende Herausforderung dar. Um die Gefahr der Überforderung und Frustration zu vermeiden, sollte man die Schüler beim Lesen begleiten, indem man z. B. jeweils eine halbe Deutschstunde pro Woche für sogenannte „Zwischenstationen“ beim Lesen einplant. Die eigentliche Besprechung des Buches erfolgt dann nach ca. fünf bis sechs Wochen, wenn das gesamte Buch von allen gelesen worden ist. Von einer „Zwischenstation“ zur nächsten wird jeweils eine bestimmte Seitenzahl vorbereitend gelesen. Parallel können die Schüler ein Lesetagebuch führen, für das der Lehrer jeweils pro Woche eine Pflichtaufgabe und mehrere Wahlthemen benennt. Es ist sinnvoll, das erste Kapitel „Nicht in Amerika“ (S. 9–20) mit den Schülern gemeinsam zu lesen. Hier berichtet Manfred Lenz zunächst von seinem ersten Eindruck im Untersuchungsgefängnis und vom Verhalten der Beamten. Die Schüler können Unterschiede zwischen dem bundesdeutschen Rechtsstaat und dem Umgang mit Lenz herausarbeiten und anschließend spekulieren, mit welcher Behandlung der Protagonist noch zu rechnen hat. Nach dieser ersten Stunde sind die Schüler sehr motiviert, da sie wissen wollen, was Lenz eigentlich verbrochen hat und wie es mit ihm weitergeht; sie können nun ungefähr die Hälfte des ersten Teils alleine lesen. Für ihr Tagebuch erhalten sie die Aufgabe, einen Zeitstrahl des Lebens von Manfred Lenz anzulegen und in diesen alle Ereignisse der gelesenen Seiten einzutragen. In der zweiten „Zwischenstationsstunde“ tauschen sich die Schüler in Paaren über die bisherigen Eintragungen im Zeitstrahl aus, ggf. verbessern oder ergänzen sie diese. Danach können erste Leseeindrücke zum Buch (z. B. in einer Kartenabfrage) gesammelt werden: Was ist dir positiv aufgefallen? Was empfindest du eher als negativ? Welche Fragen hast du an den ersten Teil? Diese Fragen werden dann entweder, falls möglich, sofort von der Klasse beantwortet oder in einem „Fragenspeicher“ gesammelt, da man sie vielleicht nach der Lektüre des gesamten Buches beantworten kann. Die Schüler erhalten die Aufgabe, den ersten Teil zu Ende zu lesen und zu einer Textstelle ihrer Wahl einen inneren Monolog des Protagonisten zu schreiben. So kann man nun in jeder Woche durch eine Begleitung im Unterricht zum Lesen „zwingen“. Da das Buch immer spannender wird, wundern sich besonders die leseschwächeren Schüler dann sehr, wenn sie es wirklich geschafft haben, einen solchen Umfang zu bewältigen.
Der historische Hintergrund des Romans
Krokodil im Nacken wirft bei den Schülern viele Fragen nach dem historischen Kontext auf. Das Vorwissen der Schüler zum Thema DDR ist mittlerweile sehr gering, da sie – und oft auch die Eltern – keine oder kaum persönliche Erinnerungen mehr mit diesem Land verbinden. Um dieses als Lehrer selbst einschätzen zu können, kann man in Paaren eine Mindmap anlegen lassen oder in einem Brainstorming sammeln, was die Schüler bereits über die DDR wissen. Schon aus dieser Phase werden sich sehr viele Fragen ergeben, die gesammelt und geclustert werden, so z. B.: Was ist Sozialismus? Wie konnte die Staatssicherheit in einem so großen Land funktionieren? Wie lebten Jugendliche in diesem Land? Warum verwehrte man der Bevölkerung die Reisefreiheit? Wieso gab es so wenig Widerstand in der Bevölkerung? Diese Fragen können als Rechercheaufträge an einzelne Schüler vergeben werden. Andere Schüler erhalten die Aufgabe, ein kurzes Referat zu den Ereignissen, die in den Rückblenden angesprochen werden, auszuarbeiten. Diese sind im Lesetagebuch bereits in den Zahlenstrahl eingetragen, so dass man sie nur noch zusammenstellen muss (der 17. Juni 1953, der Bau der Mauer, der Prager Frühling, …). Das Ende der DDR, aufgeteilt in kleine Einzelvorträge (die Montagsdemonstrationen in Leipzig, der Politiker Michail Gorbatschow, der 9. 11. 1989, die Währungsunion, …), sollte der Vollständigkeit halber ebenfalls einbezogen werden, auch wenn die Romanhandlung nicht bis zu diesem Zeitpunkt reicht. Fächerübergreifendes Arbeiten mit den Fächern Geschichte und Politik (Vergleich Plan- und Marktwirtschaft, Kommunismus und Sozialismus als politische Ideologien, heutige totalitäre Staaten) ist hier sehr sinnvoll.
Das Verhalten des Vernehmers
Wie bereits angesprochen, schildert Kordon auf beklemmende Weise das Verhalten des Vernehmers, der mit den Hoffnungen und Ängsten des Protagonisten spielt. Lenz ist sich dessen bewusst, kann sich dem Einfluss aber dennoch nicht völlig entziehen. Es wird nachvollziehbar, wieso so viele Häftlinge etwas gestanden haben, was sie nie begangen haben; auch Lenz wird angeboten, dass der Staat ihm entgegenkomme, wenn er Reue zeige und sich bereit erkläre, andere zu bespitzeln. Vorbereitend zu diesem Baustein im Unterricht können einzelne Schüler die Aufgabe erhalten, die Seiten mit den Vernehmungsszenen aus der Lektüre zu suchen. Diese werden dann arbeitsteilig in Gruppen untersucht: Was erfahren wir über „Knut“, wie Lenz seinen Vernehmer heimlich nennt? Wie verhält er sich in dem Gespräch? Welche Ziele verfolgt er mit seinem Verhalten? Was bewirkt sein Verhalten bei Lenz? Die einzelnen Gruppen stellen anschließend ihre Ergebnisse vor, die in einer Tabelle gesammelt werden. Vor der Gruppenarbeit kann eine Textstelle (z. B. S. 125–131) gemeinsam besprochen werden, um den Schülern eine „Musterlösung“ als Hilfe an die Hand zu geben. Neben der reinen Textarbeit kann der Umgang der Staatssicherheit mit ihren Häftlingen auch mithilfe des Kinofilms Das Leben der Anderen (Regie/Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. D 2006) nachvollzogen werden. Noch ergreifender und unvergesslich ist aber sicherlich ein Besuch der Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, in der ehemalige Häftlinge von ihren Verhören berichten. Schon die Räumlichkeiten (die dunklen Gänge; das Lichtsystem, das verhinderte, dass Häftlinge sich sehen konnten; die Transportwagen; …) hinterlassen einen beklemmenden Eindruck. Als Kontrast kann man dann auch Filme wie GOOD BYE, LENIN! (Regie: Wolfgang Becker. Drehbuch: Wolfgang Becker, Bernd Lichtenberg. D 2003), Sonnenallee (Regie: Leander Haußmann. Drehbuch: Detlev Buck, Leander Haußmann. D 1999) oder NVA (Regie: Leander Haußmann. Drehbuch: Thomas Brussig, Leander Haußmann. D 2005) mit den Schülern ansehen, die einen eher lustigen, nostalgischen Blick auf die DDR werfen. Die Angemessenheit dieser Filme können die Schüler dann mit ihrem Hintergrundwissen aus dem Roman diskutieren.
Der Titel des Romans: das „Krokodil“
Im letzten Drittel des Romans erwähnt Manfred Lenz häufig das „Krokodil“, das ihn immer weniger zur Ruhe kommen lässt: In ihre Partei bekamen sie ihn nicht, den aufrechten Manfred Lenz, dafür aber verlas er ihre Lügen! Zwar nur zähneknirschend, aber mit guter Betonung. (…) Es folgte eine schlaflose, aber gewinnbringende Nacht. Er gewann in dieser Nacht einen Freund für sich, der ihn fortan beobachtete und beschützte. Dieser Freund legte strenge Maßstäbe an, tadelte ihn schon mal mit „Schäm dich!“, „Feigling“ oder „Arschloch!“. Sein besseres Ich war das, sein Gewissen, dieses Krokodil mit den riesengroßen, aber eben nicht nur damit knirschenden Zähnen. (S. 580) Das Tier symbolisiert die inneren Überzeugungen des Protagonisten, die er zu verraten versucht ist, und damit seine und auch Hannahs Unzufriedenheit in der DDR. Im Unterricht kann man mit den Schülern die Gründe sammeln, warum die beiden – besonders als Eltern von zwei kleinen Kindern – das Risiko einer Flucht eingehen. Hierzu bietet sich eine Analyse der Seiten 575 f. an. Die Schüler unterstreichen zunächst, was Manfred und Hannah in der DDR unglücklich macht. Danach schreiben sie einen inneren Monolog, der entweder aus Manfreds oder Hannahs Sicht beschreibt, wie sie sich fühlen, wenn die Tochter von der Lehrerin Frau Zielke berichtet. Nach der Besprechung der gesamten Lektüre können die Schüler dann in Gruppen ein Rollenspiel entwickeln, in dem die heute erwachsenen Kinder Silke und Michael ihre Eltern zur Rede stellen, warum sie sie in solche Gefahren und jahrelang in ein Heim gebracht haben. Alternativ können die Schüler auch ein Radiointerview aufnehmen, in dem Manfred Lenz nach seinen Gründen für die Flucht und seiner heutigen Sicht auf diesen Fluchtversuch befragt wird.
empfohlen von Christiane Althoff