Die Kinderkarawane von An Rutgers. Jugendbuchempfehlung
An Rutgers:
Die Kinderkarawane
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- An Rutgers van der Loeff-Basenau: Die Kinderkarawane. München: dtv junior, 2006, 192 S. (aus dem Niederländischen von Irma Silzer, Originaltitel: De Kinderkaravan)
- Lesestufe: 7. Klasse
2. Inhaltsangabe
Die Kinderkarawane berichtet über die Erlebnisse von John Sager und seinen sechs Geschwistern, die in einer abenteuerlichen Wanderung gemeinsam den Nordwesten Amerikas durchqueren. Ende der 1830er Jahre zieht die Familie Sager von der Ostküste der USA los, um im noch nicht erschlossenen Westen neues Land in Besitz zu nehmen. Fünf Jahre lang lebt sie in Missouri und schließt sich dann im Sommer 1844 einem Auswanderertreck nach Oregon im Nordwesten Amerikas an. Es ist der Traum des Vaters, dass auch seine Familie zu Amerikas Größe beiträgt. Während der Reise wird das siebte Kind der Sagers, Indepentia, geboren. Wenig später erkranken beide Elternteile und sterben. John, mit 13 Jahren das älteste Kind, übernimmt die Verantwortung für seine Geschwister, wie er es dem Vater versprochen hat. Eines Tages beschließen die anderen Auswanderer, ihre Route zu verändern und das angeblich leichter erreichbare Kalifornien anzuvisieren. John will unbedingt den Traum des Vaters verwirklichen und setzt sich so nachts zu Fuß mit seinen Geschwistern von der Gruppe ab. Die Kinder nehmen lediglich einen Ochsen, eine Kuh, einen Hund und das nötigste Gepäck mit. Nun beginnt eine abenteuerliche Wanderung, die immer wieder zu scheitern droht: Die Geschwister müssen gegen eine Bären kämpfen, verlieren ihren Ochsen, leiden Durst und geraten in Treibsand und einen Waldbrand. Schließlich gelangen sie zu dem letzten Fort vor der letzten Etappe. Der Lagerverwalter ist fasziniert von Johns Härte und Stärke. Er gibt den Kindern Indianer zur Begleitung mit; diese fühlen sich allerdings durch diese Aufgabe so gekränkt, dass sie sich nach wenigen Tagen mit dem Besitz der Geschwister absetzen. Da mittlerweile der Herbst eingekehrt ist, müssen die Kinder nun auch gegen starke Regen- und erste Schneefälle sowie Nachfröste kämpfen und Hunger leiden. Als sich die 12-jährige Luise ein Bein bricht, scheint das Ziel unerreichbar. Es gelingt den Kindern schließlich aber doch, die Missionsstation von Doktor Marcus Whitman in Oregon zu erreichen. Seine Frau schafft es, das Leben der schwer erkrankten Indepentia zu retten. John ist nervlich völlig am Ende. Er ist in den letzten Monaten für die Geschwister verantwortlich gewesen, musste ständig streng und hart zu ihnen sein, obwohl er eigentlich selbst noch ein Kind ist. Er fleht Doktor Whitman an, ihm diese Verantwortung abzunehmen, damit er selbst wieder eine Kindheit hat. Das Ehepaar Whitman erklärt sich bereit, die Kinder aufzunehmen.
3. Kurzinformationen zur Autorin
An Rutgers van der Loeff-Basenau wurde 1910 in Amsterdam geboren und starb 1990. Während ihres Studiums heiratete sie und wurde Mutter von vier Kindern. Zunächst arbeitete sie als Übersetzerin skandinavischer Bücher, 1947 erschien schließlich ihr erstes eigenes Buch. Bekannt wurde An Rutgers für ihre Jugendromane (z. B. Wenn du Mut hast oder Die Kinderkarawane). Für Ich bin Fedde erhielt sie 1977 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Bereits 1959 hatte sie ihn mit Pioniere und ihre Enkel für das beste Sachbuch gewonnen und zahlreiche weitere Werke standen auf der Auswahlliste. In den Niederlanden ist sie eine der bedeutendsten Jugendschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts und wurde für ihr Gesamtwerk mit dem Holländischen Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.
4. Allgemeine Einordnung
Der Roman Die Kinderkarawane wird von den Schülern zunächst sehr begeistert und motiviert angenommen, da er zum einen auf einer wahren Begebenheit beruht, was Bewunderung für die Kinder auslöst, und zum anderen viele Träume der Schüler widerspiegelt. So leben die Sager-Kinder in der unberührten Wildnis, erleben spannende Abenteuer und genießen ihre Freiheit. Ort und Zeit der Handlung (Amerika, besonders der „Wilde Westen“, die Indianer) faszinieren die oft unmotivierten Jungen. Im Unterricht sollte die Geschichte der Sager-Kinder allerdings nicht nur als bewundernswertes Abenteuer gelesen werden, sondern die Klasse muss sich unbedingt auch kritisch mit den Pionieren in Amerika und der Ausdehnung der europäischen Kultur beschäftigen. Dies gelingt sehr gut durch einen Wechsel zur Perspektive der Indianer (s. u.). Für den Deutschunterricht einer 7. Klasse bietet das Buch viele weitere interessante Aspekte, vor allem die Charaktere der Kinder können sehr gut herausgearbeitet werden. So kann man Johns Entwicklung thematisieren und seine Motivation besprechen, mit den Geschwistern immer weiterzuziehen, aber auch, wie sehr er unter dem Druck leidet, den er sich und den anderen auferlegt (s. u.). Sehr gewinnbringend ist es ebenso, John mit seinem jüngeren Bruder Francis zu vergleichen; auch die kleineren Geschwister wie Lizzy, Mathilde und Käthe werden sehr genau beschrieben. Der Roman liefert zudem zahlreiche Ansätze für eine Zusammenarbeit mit den Fächern Englisch (amerikanischer Pioniergeist, „American Dream“, Yellowstone- Nationalpark), Erdkunde (Stationen der Wanderung, Klimaverhältnisse in den verschiedenen Staaten der Reiseroute, Yellowstone-Nationalpark) und Geschichte (Geschichte der USA, Besiedlung des Landes, auch aus der Perspektive der Indianer, Erklärung, warum die Trecks überredet werden, nach Kalifornien statt ins britische Oregon zu ziehen).
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Die Kinderkarawane umfasst 192 Seiten; diese gliedern sich in eine Einleitung und 13 Kapitel. In der Einleitung wird in der Ich-Form über die Motivation, den Roman zu schreiben, und die Quellen, auf denen das Buch beruht, berichtet: Dieser Bericht [ein Zeitungsartikel über die Sager-Kinder] hatte mich so sehr ergriffen, dass ich ihm nachzuforschen begann. (…) Auch ein alter Brief ist erhalten geblieben, er stammt von dem Verwalter eines kleinen Pelzjägerforts. Ferner fand ich einen Bericht des bekannten amerikanischen Missionars Doktor Marcus Whitman (…). (S. 5) Außerdem wird schon das Ende der Handlung vorweggenommen: „Sein Traum würde sich erfüllen.“ (S. 9) Spannung entsteht also nicht aus der Frage, ob die Kinder ihr Ziel erreichen werden, sondern vielmehr durch die einzelnen Episoden, die sie durchleben müssen (Überfall durch Indianer, Gefahr durch eine Büffelherde, Zusammentreffen mit einem Bären, Durchqueren eines Flusses, Flucht vor einem Brand, lebens-bedrohliche Erkrankung von Indepentia, …), und aus dem ständigen Wechsel von Gefahr und Sicherheit. Die Handlung wird von einem auktorialen Erzähler chronologisch geschildert. Die Sprache des Romans ist völlig unproblematisch, einige Begriffe werden dem Leser auch durch Fußnoten erklärt. Die Schüler können das Buch also ohne Schwierigkeiten alleine vorbereitend lesen.
6. Didaktische Anregungen
Lesetagebuch
Parallel zur Lektüre des Romans Die Kinderkarawane bietet sich das Gestalten eines individuellen Lesetagebuches an. Zunächst sollte die Route der Wanderung gemeinsam in eine Karte der USA eingezeichnet werden. Diese kann auf einem Plakat in der Klasse hängen, gleichzeitig ist eine kleine Karte eine schöne Anfangsseite für das Tagebuch. Alle Ereignisse der weiteren Einträge werden dann geographisch zugeordnet, indem sie nummeriert werden und die Zahl an entsprechender Stelle in der Karte vermerkt wird. Das Lesetagebuch sollte verschiedene Pflichtteile umfassen, so z. B. die Inhaltsangabe einiger ausgewählter Kapitel, die Charakterisierung einer Person oder auch Tagebucheinträge von John, Francis, den Indianern, Doktor Whitman, … Zudem kann man freiwillige Elemente mit den Schülern absprechen, z. B. Informationen zur Geschichte, zu den Tieren (Büffel, Braunbären), Bilder der Kleidungsstücke der Indianer oder eigene Stellungnahmen (Wie bewertest du Johns Entscheidung, mit den Geschwistern den Treck zu verlassen?).
Johns Verantwortung und Motivation
Durch den Tod der Eltern wird der 13-jährige John von einem Tag auf den anderen gezwungen, die Verantwortung für seine sechs Geschwister zu übernehmen, was ihm oft schwer zu schaffen macht. Er hat keine Zeit gehabt, sich langsam an das Erwachsenwerden zu gewöhnen. Um dies im Unterricht zu thematisieren, können die Schüler innere Monologe Johns verfassen. Folgende Textstellen bieten sich als Ausgangspunkte an: S. 31 ff. (John scheitert an der Aufgabe, einen Ochsen durch einen Fluss zu begleiten), S. 57 f. (der Vater gibt vor seinem Tod John die Aufgabe, die Familie zu versorgen), S. 86 (Johns Verhältnis zu seinem Bruder Francis), S. 90 (John wird für die Geschwister immer mehr zur Vaterfigur) und S. 92 (John fällt es schwer, ein schönes Tier zu töten). Jeder Schüler soll anhand einer Passage aufschreiben, was John gerade denkt und fühlt, und diese Textstelle vor dem Vortrag des Monologs kurz in den Handlungszusammenhang einordnen. Der Rest der Klasse hat die Aufgabe zu bewerten, ob der Monolog zur Textvorlage passt. Im Anschluss werden Johns Eigenschaften abgeleitet. Insgesamt entsteht ein sehr zwiespältiges Bild eines Jungen, der auf der einen Seite sehr hart und verantwortungsbewusst ist, auf der anderen Seite aber noch sehr gerne kindlich und frei von von Verantwortung wäre. Abschließend erhalten die Schüler die Hausaufgabe, Johns Bitte an Doktor Whitman, den Kindern ein Vater zu sein („Wollen Sie unser Vater sein? Ich möchte mit den Geschwistern … ich möchte wieder mit ihnen – spielen.“, S. 187), mit den bisher erarbeiteten Eigenschaften in Beziehung zu setzen. Diese Schlussszene belegt sehr gut, dass John selbst stark unter dem Druck leidet. Es wird deutlich, dass John im Herzen immer noch ein Kind ist und wahrscheinlich nun bei Dr. Whitman die Möglichkeit hat, sich Zeit für den Prozess des Erwachsenwerdens zu nehmen. Wenn die Schüler erste Leseeindrücke zu dem Buch schildern sollen (z. B. in einem Blitzlicht, einer Kartenabfrage oder einem Schreibgespräch), äußern sie zumeist große Bewunderung für die Kinder („Das hätte ich nie geschaft!“, „Die meisten würden sich das nicht trauen.“). Daran kann man im Unterricht sehr gut anknüpfen, indem man thematisiert, woher die Kinder und besonders John die Kraft nehmen, die Wanderung durchzustehen. Hierzu kann man zunächst S. 41 wiederholend gemeinsam lesen: Während des Trecks wird das jüngste Kind der Sagers geboren und der Vater nennt es aus Stolz auf seine neue Heimat Indepentia. Gleichzeitig bittet er um Gottes Schutz und äußert den Wunsch, dass seine Tochter in Oregon getauft werden solle. Der Traum von der Unabhängigkeit und der Pioniergeist des Vaters werden in dieser Textstelle sehr deutlich. Weil John diesen Traum des Vaters erfüllen will, ist er nach dem Tod der Eltern immer wieder motiviert weiterzuziehen. Dies können die Schüler mit zahlreichen Textstellen belegen, z. B. als Johns Enttäuschung über die Entscheidung des Trecks nicht nach Oregon, sondern nach Kalifornien zu ziehen, geschildert wird (S. 82). Weitere Textstellen sind S. 73 und 155. Abschließend kann dann gemeinsam der Schluss des Buches gelesen werden, in dem Johns Träume in Erfüllung gehen. Er ruft erleichtert aus: „Gott sei Dank, jetzt ist das
Kind endlich getauft!“ (S. 189) Das Motiv, das ihm so viel Kraft gegeben hat, wird in diesem Ausruf nochmals aufgegriffen.
Die Perspektive der Indianer
Anhand der Geschichte über den Pioniergeist der Sager-Kinder lässt sich auch die Frage nach der Rechtfertigung der Ausdehnung der Pioniere thematisieren. Hierzu sollten (evtl. mit dem Geschichtsunterricht) zunächst historische Hintergründe zum Leben bzw. zur Unterdrückung der Indianer erarbeitet werden. Die Schüler erstellen z. B. Wandzeitungen zu verschiedenen Lebensbereichen der Indianer (Kleidung, heutige Stammesgebiete, Verhältnis zu Besitz und zur Natur, Konflikte mit den Eindringlingen, …). Zumeist gibt es in den Klassen auch einzelne Schüler, die sich sehr für das Leben und die Kultur der Indianer interessieren und dieses Hobby z. B. durch ein Referat in den Unterricht einbringen können. Da sich die Schüler beim Lesen des Romans sehr stark mit den Sager-Kindern identifizieren, ist es nicht ohne weiteres möglich, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, d. h. die Handlung aus der Sicht der Indianer (kritisch) zu betrachten. Durch Rollenspiele kann man die Schüler dazu bringen, in die Rolle der Indianer zu schlüpfen. Sie sollen z. B. einen Dialog verfassen, in dem sich zwei Indianer über die neuen weißen Eindringlinge unterhalten. Auch ausgehend von der Episode, in der drei Indiander die Aufgabe erhalten, die Kinder zu begleiten (S. 145 ff.), können Gespräche oder innere Monologe der Indianer geschrieben werden, in denen diese sich über den Verwalter des Forts oder ihre Aufgabe äußern. So erfassen die Schüler, wie erniedrigend diese Situation für die Indianer ist und wie sehr sie deren Selbstwertgefühl verletzt. Auch die Ausbeutung durch die Eindringlinge sollte deutlich werden. In leistungsstarken Klassen kann zudem erarbeitet werden, dass die Autorin an nur sehr wenigen Stellen des Romans die Selbsteinschätzung der Amerikaner, den Ureinwohnern überlegen zu sein, und die Notwendigkeit der Christianisierung hinterfragt. Vielmehr werden die Pioniere und der Traum des Vaters glorifiziert. Indem man die Frage aufwirft, ob die Besiedlung wirklich nur so positiv gesehen werden kann, wie es von An Rutgers suggeriert wird, kann man in die Diskussion einsteigen.
empfohlen von Christiane Althoff