Die Bedrohung. Jugendbuchempfehlung
Wolfgang und Heike Hohlbein:
Die Bedrohung
1. Bibliografische Angaben und Lesestufe
- Wolfgang und Heike Hohlbein: Die Bedrohung. München: Heyne, 2005, 608 S.
- Lesestufe: 6.–9. Klasse
2. Inhaltsangabe
An dem Tag, an dem der Menschenjunge Anders das Elbenmädchen Madras vor einem Nästy, einem Ungeheuer, rettet, brechen neue Zeiten an: „Nichts sollte nach diesem Tag wieder so werden, wie es zuvor gewesen war, denn an diesem Morgen begann der Lauf der Ereignisse, die (…) aus so vielen Freunden Fremde und aus so vielen Fremden Feinde machen sollten“ (S. 9 f.). Elben haben begonnen, sich abseits der Stadt niederzulassen, und ein weiterer Fremder, der charismatische Ger Fray, trifft in dem Tal ein, in dem Anders lebt. Als die Bedrohung durch die Nästys immer größer wird, nutzt Ger Fray die Angst der Talbewohner für seine Pläne und fängt an, eine Armee zusammenzustellen. Allerdings gelingt es nur den Elben, die Ungeheuer zu besiegen. Bald nach der anfänglichen Freudenstimmung über die gebannte Gefahr geben die Menschen jedoch angestachelt von Ger Fray den Elben die Schuld für das Unheil. Auch die Elbenfreunde – Anders und seine Familie – geraten in die Gefahrenlinie. Madras führt Anders in die Heimat der Elben, aus der ihr Volk vor langer Zeit vor den Nästys geflohen ist. Hier entdeckt Anders, wie die Ungeheuer zu bezwingen sind. Er kehrt gerade zur rechten Zeit zurück, um mit seinem Wissen einen Kampf zwischen Elben und Menschen zu verhindern und so Ger Fray zu besiegen.
3. Kurzinformationen zu den Autoren
Wolfgang Hohlbein, Jahrgang 1953, und seine Frau und Co-Autorin Heike sind die meistgelesenen und erfolgreichsten deutschsprachigen Fantasy-Autoren. Der Durchbruch gelang ihnen 1982 mit dem gemeinsamen Jugendbuch Märchenmond, für das sie mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurden. Wolfgang Hohlbein hat bereits über 150 Bücher veröffentlicht, einen Teil davon zusammen mit seiner Frau. Dabei deckt er die ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab: von Kinder- und Jugendbüchern über Romane für Erwachsene und Filmbücher, von Fantasy über Horror bis hin zu historischen Romanen.
4. Allgemeine Einordnung
Die Bedrohung ist nicht nur eine Anti-Utopie im Fantasy-Kleid, sondern schildert verschlüsselt auch die Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten. Die Parallelen sind dabei sehr offensichtlich: Ger Fray, der mit seiner Stimme die Massen in seinen Bann zieht, erinnert an Hitler, die Gruppe der „Freunde“ (eine Vereinigung für Jugendliche, die Ger Fray gründet) in ihren braunen Uniformen mehr als deutlich an die Hitlerjugend und die Elben ohne Heimat teilen ein ähnliches Schicksal wie die Juden („Wenn euch ein Unglück trifft, sucht ihr immer einen Schuldigen. Und wer eignet sich besser dafür als ein Fremder, von dem man nicht weiß, wer er ist und wo er herkommt?“, S. 98). Selbst die Reichspogromnacht wird mit dem Brennen der Heiligen Hallen verarbeitet (S. 422 ff). Insgesamt bietet das Buch die Herausforderung, dass die Schüler es beim Lesen zunächst vor allem als Fantasyroman sehen und sich in die Phantasiewelt hineinfinden, wo der Kampf Gut gegen Böse und das Wirken unheimlicher Kräfte ganz nach ihrem Geschmack sind. Im Unterricht selbst erfolgen dann die Übertragung und Entschlüsselung der Ereignisse; neben dem Geschichtsaspekt lassen sich auch allgemeine Themen und Werte (s. u.) erschließen. Der Fantasyrahmen dient letztlich nur als Lesemotivation, im Grunde können aber dann durchaus Werte und/oder Geschichtsfakten vermittelt werden. Insofern bietet das Buch vier entscheidende Möglichkeiten für den Deutschunterricht, auch wenn es aufgrund seines Umfangs und seiner Schwachstellen (s. 5.) nur bedingt für die Behandlung empfehlenswert ist:
- Schwerpunkt: Deutsche Geschichte
Die Entschlüsselung von historischen Ereignissen und ihre Übertragung aus dem Fantasy-Konzept ermöglichen eine etwas andere Umgangsweise mit Geschichte und Literatur. Reizvoll könnte auch ein Vergleich zwischen diesem Buch und einem beliebigen Jugendroman sein, der die Geschichte des Zweiten Weltkriegs explizit zum Thema hat. - Schwerpunkt: Allgemeingültige Werte und gesellschaftliche Probleme
Bsp.: Treue, Freundschaft, Umweltschutz, Medienmanipulation, Wirtschaftskrisen, Fremdenfeindlichkeit, aber auch Nächstenliebe, Freundschaft und Zusammenhalt sowie Selbstbestimmung. - Schwerpunkt: Freude am Lesen und der Sprache
Kreative Schreibaufträge und die Gestaltung von Spielszenen können hier im Vordergrund stehen. - Schwerpunkt: Hohlbeins Tolkien-Rezeption
Der Begriff der Rezeption könnte ebenfalls anhand der (auszugsweisen) Lektüre erarbeitet werden, da Hohlbein offensichtlich an zahlreichen Stellen auf Tolkiens Der Herr der Ringe zurückgreift.
Fazit: Als letzte Lektüre vor den Sommerferien in einer literarisch eher aufgeschlossenen und leicht zu motivierenden Klasse ist der Roman für einen kreativen und diskursfreudigen Literaturunterricht empfehlenswert. Ansonsten bietet er sich für eine auszugsweise Besprechung, kurzweilige Privatlektüre oder die Klassenbibliothek an.
5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten
Der Jugendroman umfasst 608 Seiten, die sich in 27 Kapitel aufteilen. Entsprechend dem Lesealter ist das Buch sprachlich anschaulich und leicht nachvollziehbar geschrieben. Der allwissende Erzähler nimmt dabei vorrangig die Perspektive der Hauptperson Anders ein. Die Fantasy-Elemente sind im Großen und Ganzen gering ausgeprägt und beschränken sich vor allem auf Lebewesen. Wirkungen von Magie und unerklärliche Phänomene finden nur am Rande statt, wobei auf Altbekanntes zurückgegriffen wird. Inhaltlich-strukturell gibt es einige Kritikpunkte. Gerade zum Ende hin ist die Handlung nicht immer leicht nachvollziehbar und erfordert wiederholtes Nachlesen. Im letzten Drittel verliert der Roman an Spannung, stattdessen wird mit Sprüchen wie „ein jedes Ding hat seinen Platz in der Welt“ oder „man kann Geld nicht essen“ (S. 349) der moralische Zeigefinger erhoben. So kommt dann auch die Lösung etwas schnell und bieder daher, als sich herausstellt, dass die Nästys die dunkle Seite der Menschen sind, die nicht mit Waffen, sondern mit dem eigenen Willen zu besiegen sind. Trotz der 600 Seiten werden dann gerade diesem Kampf nur wenige Zeilen eingeräumt. Welcher Zusammenhang zwischen Ger Fray und den Nästys besteht, woher dieser kommt, was seine Ziele sind und warum er mit dem Elbenfürst verfeindet ist, für all diese Fragen muss sich der Leser am Ende dann die Antworten selber suchen, was dem Buch einerseits einige Minuspunkte einbringt, andererseits so aber auch Leerstellen bietet, die im Unterricht gefüllt werden können.
6. Didaktische Anregungen
Die Parallele zwischen dem Roman und der deutschen Geschichte wurde bereits angesprochen, so dass nun im Folgenden ein Beispiel für eine Bearbeitung im Unterricht gegeben werden soll. Es ist durchaus möglich, diese Einheit auch dann durchzuführen, wenn das Buch nicht als Ganzes im Unterricht behandelt wird. Es genügt, wenn ein Schüler (oder der Lehrer) in die Handlung einführt (Buchvorstellung) und die benötigten Seiten als Klassensatz kopiert werden (geeignete Textstellen finden sich auf den S. 150–190). Die vorgestellte Einheit erstreckt sich auf eine Doppelstunde, kann aber auch auf zwei Einzelstunden verteilt werden.
1. Motivation/Hinführung
Der Lehrer trägt zwei Zitate vor, die sich inhaltlich und sprachlich ähneln; eines stammt aus der Lektüre, das andere aus einer Rede Hitlers oder Goebbels’. Jeder Schüler gibt seine ersten Eindrücke wieder und versucht sich an einer namentlichen Zuordnung der Zitate (Blitzlicht-Methode). Erst danach nennt der Lehrer die jeweiligen Quellen der Zitate, wobei den Schülern Raum für eine kurze Stellungnahme gegeben wird.
2. Darbietung mit Erarbeitung I
Die Themen „Nationalsozialismus“, „Zweiter Weltkrieg“ und „Judenverfolgung“ sind den meisten Schülern in irgendeiner Weise zwar geläufig, aber das Wissen erstreckt sich zumeist auf wenige Ereignisse und Schlagwörter, die sie nur unzusammenhängend wiedergeben können. Somit sollte in einem nächsten Schritt eine Wissensbasis gelegt werden, um die entsprechenden Parallelen aus dem Text herauslesen zu können. Hier bietet sich auch eine fächerübergreifende Zusammenarbeit mit dem Geschichtsunterricht an, der in einer kurzen Sequenz dieses Grundwissen vermitteln könnte. Ansonsten sollte es möglich sein, mittels eines etwa zehnminütigen Films über die Hitlerjugend und ggf. auch über die NS-Rassenpolitik diese Grundlage zu schaffen. Besonders geeignet ist die entsprechende ZDF-Reihe von Guido Knopp, in der sowohl speziell die Hitlerjugend und die Judenfrage in eigenen Sonderreihen thematisiert werden, als auch Filme zum Nationalsozialismus insgesamt erschienen sind. Verwiesen sei auch auf die Fachschaft Geschichte, die in der Regel derartiges Material in ihrem Fundus hat. (Sollte kein Filmausschnitt vorliegen, genügen u. U. auch Folien, auf denen Hitler, die Hitlerjugend und ein Konzentrationslager abgebildet sind, so dass der Lehrer in einem kurzen Vortrag die notwendigen Fakten selber zur Verfügung stellt.) Anhand des Filmausschnittes sollen die Schüler in Still- und/oder Partnerarbeit Fragen zu Organisation, Kleidung und Tätigkeiten der Hitlerjugend sowie zu Inhalten und Zielen der Rassenpolitik beantworten. Diese Fragen werden ihnen als Arbeitsblatt ausgeteilt, wobei der eine Teil der Klasse das Thema Hitlerjugend und der andere die Rassenpolitik bearbeitet. Im Unterrichtsgespräch werden die Ergebnisse zusammengetragen.
3. Erarbeitung II und Transfer
In dieser Phase sollen die Schüler in Gruppen zusammenarbeiten. Dazu werden ihnen Plakate ausgeteilt, auf denen eine dreispaltige Tabelle vorgezeichnet ist. In die erste Spalte tragen sie zunächst Beispiele aus der Lektüre ein, die sich auf die NS-Zeit übertragen lassen. Die Übertragungen werden in der zweiten Spalte notiert.
Beispiel:
Nach etwa 20 Minuten präsentieren die einzelnen Gruppen ihre Ergebnisse bzw. ergänzen sie gegenseitig. Neben der Übertragung auf die NS-Zeit sind an manchen Stellen auch weitere Parallelen und Assoziationen zu finden, die nicht in (direktem) Zusammenhang mit der deutschen Geschichte stehen. Beispielsweise ist das Vorgehen gegen die Elben auch in allen Formen von Fremdenfeindlichkeit gegenwärtig. In einer erneuten kurzen Gruppenarbeitsphase sollen die Schüler weitere Übertragungen sammeln und die dritte Spalte ausfüllen. Bei Aufteilung der Unterrichtseinheit in zwei Einzelstunden wäre dieser Arbeitsauftrag auch als Hausaufgabe möglich.
4. Problematisierung
Nach der Sammlung der Ergebnisse soll im zweiten Teil vor allem die Frage im Mittelpunkt stehen, inwieweit in einem Fantasyroman ein Thema wie die Judenverfolgung im Dritten Reich thematisiert werden darf. Zunächst tauschen sich die Schüler untereinander mittels des Kugellagerverfahrens1 aus, bis die Diskussion nach zwei Durchgängen ins Plenum (Stuhlkreis) verlagert wird. Die Organisation der Diskussion findet im Fishbowl-Verfahren2 statt, welches mit einem kleinen Rollenspiel verbunden wird: An vier bis fünf Schüler werden vom Lehrer vorbereitete Rollenkarten verteilt; die Akteure haben fünf Minuten Zeit, sich mit ihrer Rolle vertraut zu machen, und spielen im Anschluss in der Mitte des Stuhlkreises eine Diskussion zum obigen Thema vor. Mögliche Rollen wären beispielsweise:
- der Moderator, der die Diskussion (Talkshow, Literarischer Zirkel o. Ä.) leitet,
- ein Literaturprofessor, der die Meinung vertritt, dass alles literarisch aufgearbeitet werden sollte,
- ein Doktor der Gegenwartsgeschichte, der sich vehement gegen die so billige Verharmlosung und Verschlüsselung von Geschichtsereignissen in Büchern wie diesem ausspricht,
- ein Lehrer, der die spielerische Aufklärung der Kinder über ein so ernstes Thema lobt und/oder
- ein Leser, der diese Parallele gar nicht mitbekommen hat und die ihn auch gar nicht interessiert, weil ihm die Handlung an sich und der bloße Zeitvertreib durch das Lesen selbst genügt.
Nach der Durchführung des Rollenspiels äußern zunächst die Spieler und dann das Publikum ihre eigene Meinung zur Diskussionsfrage und ordnen sich dabei einer der Rollenfiguren zu oder bringen eine neue Position ein. Wichtig wäre es, dass (je nach Altersstufe) der Lehrer oder zwei Schüler die Diskussion mitprotokollieren bzw. dass am Schluss festgehalten wird, welches Meinungsbild letzten Endes zu dieser Frage in der Klasse vertreten ist.
5. Vertiefung/Hausaufgabe
Abgerundet wird das Ganze durch einen Brief, den die Schüler (oder die Klasse gemeinsam) an die Autoren schreiben und in dem sie nochmals ihre Meinung und ihre Gedanken zum Buch ausdrücken. Dieser Arbeitsauftrag wird zunächst als Hausaufgabe gestellt und in einer der Folgestunden umgesetzt, so dass letztlich wirklich ein Brief die Autoren erreicht. Gegebenfalls kann von dieser Stelle aus die Aufsatzform des sachlichen Briefes wie auch des Berichtes eingeübt bzw. wiederholt werden.
empfohlen von Susanne Behlert
1 Die Schüler stehen sich in zwei Reihen gegenüber und bilden somit jeweils ein Paar aus „Sprecher und Zuhörer“. Die Sprecher haben eine Minute (oder mehr) Zeit, ihrem Gegenüber ihre Meinung zur gestellten Frage mitzuteilen. Die Zuhörer hören dabei nur ihrem jeweiligen Partner zu. Nach Ablauf der Zeit wechseln die Partner (die Reihe der Sprecher geht z. B. zwei Schritte = Personen nach links weiter) und die Rollen werden getauscht, die Sprecher sind nun Zuhörer.
2 Im Außenkreis sitzen alle Schüler (= Plenum), im Innenkreis sitzen die Teilnehmer des Rollenspiels und spielen die Szene o. ä. vor. Ein Stuhl im Innenkreis bleibt frei, auf ihn nimmt ein Schüler aus dem Außenkreis zeitweise Platz, wenn er eine Frage an die Diskussionsteilnehmer hat oder selbst eine Meinung äußern möchte. Ansonsten beobachtet der Außenkreis die Rollenspieler nur still.